Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
EINS
Nachspiel
H arper erwachte, als die Sonne gerade aufging, und blinzelte in das matte orangefarbene Licht, das durch ihre Vorhänge strömte. Einen Moment lang, einen kurzen, wundervollen Moment, hatte sie die Nacht zuvor vergessen, die Nacht, in der ihre kleine Schwester angegriffen worden war, bevor sie sich dann in eine Art Meerjungfrau verwandelt hatte und im Ozean verschwunden war.
Nun kam alles wieder zurück. Harpers Kopf pochte bei der Erinnerung und sie kniff die Augen zusammen.
Nachdem Gemma davongeschwommen und Harper allein an der Mole von Bernies Insel zurückgeblieben war, hatte Daniel sich um Alex gekümmert, der bewusstlos in der Hütte am Boden lag. Harper hatte zwar nicht miterlebt, was mit ihm geschehen war, konnte es sich aber ungefähr vorstellen.
Als sie das Haus auf der Insel erreicht hatten, beugte sich gerade ein schreckliches Vogelmonster über ihn, das Maul voller rasiermesserscharfer Zähne und mit riesigen schwarzen Flügeln am Rücken. Dann hatte es seine Gestalt verändert und sich in eine andere Art von Monster verwandelt– in die wunderschöne Penn.
Harper fiel es selbst schwer, das alles richtig zu begreifen. Nachdem Alex wieder zu sich gekommen war, hatte er felsenfest geglaubt, seine Erinnerungen wären nur ein bizarrer Traum gewesen, verursacht durch einen Schlag auf den Kopf. Doch Harper und Daniel hatten ihm mitteilen müssen, dass das alles wirklich passiert war: Die Monster waren echt und Gemma war verschwunden.
Und als all das vorbei und Harper wieder zu Hause war, musste sie auch noch ihrem Vater erklären, was mit Gemma passiert war, obwohl sie es doch selbst nicht verstand. Natürlich konnte sie ihm nicht die Wahrheit sagen– kein vernünftiger Mensch würde ihr glauben, ohne es selbst gesehen zu haben.
Und so hatte Harper ihrem Vater Brian erzählt, Gemma sei mit Penn und ihren Freundinnen weggelaufen. Das kam der Wahrheit wenigstens ein bisschen nahe, doch selbst das war für ihn nur schwer zu verstehen. Harper hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, ihren Vater davon zu überzeugen, dass Gemma nicht mehr nach Hause kommen würde. Das war so ziemlich das Schwerste gewesen, was sie in ihrem Leben jemals hatte tun müssen.
Dabei war ihr bewusst, dass alles noch viel schwieriger werden würde. Sie hatte keine Ahnung, was für Wesen Penn und die anderen Mädchen waren, ganz zu schweigen davon, wie man sie aufhalten oder Gemma zurückholen könnte.
Den ganzen Tag im Bett zu liegen brachte sie der Lösung allerdings auch nicht näher. Harper drehte sich zur Seite und nahm ihr Handy vom Nachttisch. Eigentlich wollte sie nur nach der Uhrzeit schauen, doch dann stellte sie fest, dass sie zwei verpasste Anrufe von einer fremden Nummer hatte. Gemma hatte ihr Handy zurückgelassen – wenn sie also anrief, würde eine unbekannte Nummer angezeigt werden.
Harper rutschte das Herz in die Hose. Sie war so todmüde gewesen, dass sie das Handyklingeln gar nicht gehört hatte. Hastig wählte sie die Nummer ihrer Mobilbox.
» Sie haben eine neue Nachricht«, erklärte ihr die automatische Stimme. Harper fluchte leise. Sollte sie einen Anruf von ihrer Schwester verpasst haben, würde sie sich das nie verzeihen.
» Hi, Harper, Daniel hier«, drang seine tiefe Stimme durch das Handy.
» Daniel «, flüsterte Harper, legte die Hand an die Stirn und lauschte seiner Nachricht.
» Ich habe deine Nummer von dem mürrischen Mädchen in der Bücherei bekommen. Ich wollte mich vergewissern, dass du gut nach Hause gekommen bist, und mal nachfragen, wie es dir geht… Du weißt schon, nach allem, was letzte Nacht passiert ist. Ich habe nach Gemma gesucht, wie ich es dir versprochen habe. Aber als ich vorhin mit dem Boot raus bin, hab ich sie nicht gesehen. Ich werde weiter nach ihr suchen, und wenn ich was finde, melde ich mich. Also, ruf mich bitte später mal zurück.« Er verstummte. » Ich hoffe, dir geht’s einigermaßen.«
Nach seiner Nachricht hielt sie das Handy noch eine Weile gegen das Ohr gedrückt, selbst als die automatische Stimme ihr versicherte, sie habe keine weiteren Nachrichten mehr.
Es war sehr nett von Daniel, anzurufen und sich nach ihr zu erkundigen, aber Harper brachte es nicht über sich, ihn zurückzurufen. Sie musste diese merkwürdige Flirterei zwischen ihnen aus ihrem Kopf verbannen. Wenn er etwas Neues über Gemma erfuhr, würde er es sie wissen lassen, und darüber hinaus durfte sie nichts mit ihm zu tun haben. Gemma kam an erster Stelle. Sie
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