Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
sie zu Hravn hinüber. Er stand seit einiger Zeit wieder mit seinen Artgenossen im selben Auslauf. Obwohl die meisten ihn immer noch ängstlich beäugten, hatte er bei einigen mutigen Hengsten Anschluss gefunden und trug in alter Pegasus-Manier spielerische Kämpfe aus.
Hravn entdeckte Sora und wieherte ihr munter entgegen. Er trabte ungeduldig am Gatter auf und ab, bis Sora endlich bei ihm war.
»Na, mein Schwarzer«, begrüßte sie den Rappen und kraulte ihm den Hals. Hravn schnaubte und stieß Sora etwas zu ruppig an.
»Ja, ja«, sagte sie und öffnete das Gatter. »Es geht ja schon los!«
Er ließ sich fallen und wälzte sich erst einmal nach Herzenslust im Schnee. Sora stapfte zu einem kleinen Unterstand und holte eine Bürste sowie Hravns Trense hervor. Einen Sattel gab es nicht. Die Schwingen der Pegasus gaben dem Reiter Halt.
Sora band Hravn an einem Pfosten fest. Dann begann sie das schwarze Fell mit geübten Strichen zu bürsten. Hravn genoss es sichtlich. Soras Gedanken kehrten zur Nacht zurück.
Seit sie hierhergekommen war, träumte sie immer wieder von diesem schwarzhaarigen Mädchen.
Sora war schon vor Langem zu dem Schluss gekommen, dass sie irgendwann nach ihm suchen musste, doch das Wetter über Jättehem hatte es bisher nicht zugelassen. Also überstürzte sie nichts. Die sichere Heimat des Klans von Trymhem mitten im tiefsten Winter zu verlassen, wäre selbstmörderisch gewesen. Gemini hatte Sora davon überzeugt. Abgesehen davon könne sie unmöglich abreisen, bevor Hravns Ausbildung beendet sei, meinte sie.
Nein, Sora konnte Hravn natürlich nicht so einfach verlassen. Sie und Hravn gehörten zusammen.
Obwohl Sora Antworten haben wollte, und das am liebsten sofort, musste sie abwarten. Hravns Ausbildung würde erst mit seinem ersten Flug erfolgreich abgeschlossen sein.
Sora zog einige von Hravns Federn durch ihre Finger. Schwarzblau glänzend hoben sie sich vom Schneeuntergrund ab. Keine Spur mehr von dem matten, ausgefransten Gefieder, das noch vor zwei Monaten einen traurigen Anblick geboten hatte.
Hravn tänzelte einige Schritte zur Seite. Er war kitzlig und was seine Schwingen anging etwas eigensinnig, sogar Sora gegenüber. Sie lächelte und setzte ihre Arbeit mit der Bürste fort. Sie grübelte weiter über ihre seltsamen Träume.
Wer waren all diese Menschen, die seit ihrer Ankunft immer wieder in ihren Träumen auftauchten? Was hatten sie mit ihr zu tun? Welche Rolle spielten sie in dem Abenteuer, in das sie geraten war?
Sora ließ ihren Blick über den Horizont schweifen und plötzlich stockte ihr der Atem.
Ein Drache!
Hoch oben über den schneebedeckten Gipfeln von Trymhem zog ein riesiger Drache seine Kreise. Sora verfolgte ihn mit offenem Mund, bis er am Horizont hinter den Bergen verschwand.
Nach einer langen Schrecksekunde fing Sora wieder an, das rabenschwarze Fell zu bürsten.
Nur wenig später ritt sie auf Hravn über das schneebedeckte Hochland. Ihr Ziel waren – wie schon so oft in den letzten zweieinhalb Monaten – die Steilklippen, die zum Trymfjord hinab führten.
Jättehem war von unzähligen Fjorden durchzogen, die meilenweit ins Landesinnere führten.
Salzwasser füllte die Schluchten, die einen Weg ins offene Meer boten. Das Hvergelmer, so hatte ihr Gemini erzählt, erstreckte sich um Godheim und Vanaheim. Bei Sonnenaufgang bot sich hier meist ein atemberaubendes Naturschauspiel. Sora hatte es in den letzten Wochen oft verfolgt, immer wieder aufs Neue überwältigt.
Sora lenkte Hravn um einige mickrige Fichten herum und ritt geradewegs auf das steinerne Plateau zu, das einige Meter über den Abgrund zum Trymfjord hinausragte.
Die Kentauren nannten dieses Plateau Jättestol – Stuhl der Riesen. Es befand sich ziemlich genau über dem Ende des langen Fjordes.
Der Jättestol war schneebedeckt und hüllte somit die gefährliche, schroffe Abbruchkante in weiche, trügerische Schneewehen.
Sora sprang von Hravns Rücken und wagte sich bis auf einige Meter an diese heran. Hravn blieb dicht hinter ihr und stupste sie liebevoll an. Dann schnaubte er zufrieden und hob witternd sein schwarzes Haupt. Es war fast so, als wüsste er, worauf Sora wartete.
Der Blick war frei. Tief unter ihnen ruhte der Trymfjord, eingerahmt von steilen, schroffen Felsen, an denen unzählige gigantische Wasserfälle zu Eis erstarrt waren. Der Fjord selbst erstreckte sich ruhig und spiegelglatt – das Salzwasser war lediglich an den Uferkanten angefroren.
Sora blickte nach
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