Die Erben Der Flamme
gekleidete Ruinenbewohner säumten den Platz. Lee warf einen Blick an sich hinunter. Obwohl sie eine ordentliche Lakami-Kleidung besaß, unterschied sie sich dank dem Dreck kaum von den anderen. Ein Verkrüppelter stolperte an ihr vorüber, sein Gesicht zeigte freudige Erwartung. Betrunkene johlten im Hintergrund ein altes Lied, Frauen standen unweit daneben und kicherten hinter vorgehaltener Hand. Einige Kinder stürmten durch die Menge und schubsten eine alte Frau um, die sich lau thals empörte. Die Menschen waren unruhig, während sie zur Pyramide und dem Podium drängten. Ihre Anspannung war beinahe greifbar. Lee befand sich inmitten der Bettler von Ab’Nahrim, kurz vor der Essensausgabe am Großen Platz. Zu alt und krank, um in den Minen zu arbeiten oder zu arm, um die Kinder zu versorgen, suchten die Untersten der Unteren jeden Tag den Platz auf. Dort warteten sie auf die tägliche Gabe der Dunkelmagier.
Lee war in den Ruinen geboren, sie kannte nichts anderes als die Herrschaft der Dunkelmagier. Dennoch verspürte sie stets eine tiefe Abneigung gegenüber ihren Mitmenschen, die bereit waren, sich für die Gunst der Dunkelmagier zu erniedrigen. Lee ballte ihre Fäuste. Heute würde sich etwas ändern.
»Sie sind zu spät! Sie sind zu spät!«
Lee sah einen Greis mit zahnlosem Mund, der fast in der wogenden Menschenmasse unterging, aber sich mit Hilfe seines Stocks Gehör verschaffte. Unweit vor ihr hörte Lee Anfeuerungsrufe. Zwischen den Menschen wälzten sich im Staub der Ebene zwei junge Männer und lagen sich in den Haaren. Geduld , ermahnte sich Lee, während sie wartete. Sie würden kommen - sie kamen immer. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie erscheinen würden. Dann sah Lee sie. Die Stimmen verstummten und die Leute wichen schlagartig zurück. Zwei hellblaue Ungetüme bahnten sich ohne Rücksicht einen Weg zu den Kämpfenden hindurch. Die Eisorks packten die Männer am Genick und trennten sie wie zwei sich balgende Kinder. Im Griff der kalten Monster flachte ihre Streitlust sofort ab. Stattdessen flehten sie nun um Gnade.
Doch Eisorks kannten dieses Wort und seine Bedeutung nicht. Während ihre Schöpfer, die Dunkelmagier, in den steinernen Prunkvillen der Zwerge in Belerock hausten, hatten sie die Eisorks als Wächter in Ab’Nahrim gelassen. Viele fürchteten diese Bestien. Auch Lee hatte sich stets in den Trümmern einer Ruine versteckt, sobald eine Eisork-Patrouille vorbeimarschierte. Inzwischen wusste sie es besser. Abermals griff Lee in die Tasche und umfasste dessen schweren Inhalt, als ob dieser ihr Sicherheit geben würde.
»Es sind Golems«, hatte Dionadus ihr erklärt. »Willenlose Wesen, deren einzige Bestimmung es ist, den Dunkelmagiern bis in den Tod zu dienen - wobei fraglich ist, ob man bei Eisorks überhaupt von Leben sprechen kann.«
Weiter hatte Dionadus ihr gesagt, dass die grobschlächtigen Wesen auf bestimmte Muster reagierten. »Sie sind nicht dumm, aber auch nicht denkende Wesen. Es ist so, als wenn ein Funke in ihrem Kopf überspringt und einen Befehl ihrer Erschaffer dort entzündet. Zum Beispiel sehen sie die schwarzen Roben der Dunkelmagier und erkennen: Meister. Ein weiteres Merkmal sind Kampfhandlungen. Du kannst sie anschreien, verfluchen, meinetwegen vor ihnen tanzen - Eisorks werden erst aktiv, wenn es zu Handgreiflichkeiten kommt. Ob der Angriff sich gegen sie oder andere richtet, ist ihnen egal. Die Täter werden sofort zur Pyramide gebracht und von dort ansässigen Dunkelmagiern bestraft.«
Lee verfolgte, wie die Eisorks die beiden Männer davontrugen, bis sie aus ihrer Sichtweite waren. Wie jeder andere auf den Platz wusste Lee, dass ihnen Peitschenhiebe bevorstanden. Doch keiner würde wegen dieser Schandtat reagieren. Die Menge hatte den Vorfall bereits vergessen und setzte ihre Protestrufe wegen der Essensausgabe alsbald fort.
Lee schloss die Augen. Manchmal schämte sie sich, ein Ruinenbewohner zu sein und fragte sich, ob ihr Vorhaben einen Sinn hatte.
Reiß dich zusammen! Dafür bist du heute nicht hergekommen, oder?
»Träumst du mal wieder?«
Überrascht schaute sie auf. Lee hatte die Stimme erkannt, noch ehe sie die Person erblickte. Es war Kala.
Mit einem Lächeln, als wären sie beste Freundinnen, trat Kala auf Lee zu. Sie trug die Kapuze offen, ihr blondes Haar hatte sie hoch aufgesteckt. Eine goldene, geschwungene Haarnadel hielt das Kunstwerk zusammen. Neidisch sah Lee auf ihr makelloses Gesicht, auf dem nicht einmal ein Hauch von Asche
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