Die Erben Der Flamme
Bettler von der Spende am Großen Platz. Letztere mussten jedoch um ihre Nahrung flehen.
Es gab lediglich eine Möglichkeit, sich selbst zu ernähren: Rattenjagd. Die listigen Nagetiere bildeten neben Würmern und Schaben die einzige Tierart, die unter der Erde Seite an Seite mit den Ruinenbewohnern lebte. Doch ihre Zahl schwankte. Viele behaupteten, in Ab’Nahrim gäbe es dreimal so viele Ratten wie Menschen.
Mit der Wasserversorgung verhielt es sich nicht viel besser. Zwar spendete der unterirdische Fluss des Scheidegebirges, der Elohyn, genug Wasser für alle, trotzdem hatten Dunkelmagier aus Sorge um Verschmutzung Eisork-Wachen aufgestellt. Diese ließen die Menschen zur regelmäßigen Zeiten zum Elohyn hinab, damit sich jede Familie zwei Eimer füllen durfte.
Mit einem Mal wurde Lee klar, was es mit der Verspätung der Essensausgabe auf sich hatte: Es war geplant.
»So ein mieses Spiel«, stieß sie hervor.
»Was meinst du?«, erwiderte Kala, die Unschuld in Person.
Die Menge war kaum noch zu halten. Nahe des Ewigen Feuers kam es wieder zu Schlägereien. Die Eisorks waren sogleich zur Stelle.
Lee spuckte Kala vor die Füße. »Dein Vater ist schlimmer als der dreckigste Lump auf diesem Platz. Er wird den Hunger nutzen, um die Leute für sich zu gewinnen.«
Kalas Mienenspiel bewies Lee, dass sie richtig lag. Die Schattenhand benutzte die Ruinenbewohner, so wie die Dunkelmagier diese im Griff hatte. Es war alles ein ausgeklügeltes Mächtespiel. Kalas Vater ließ Zeit verstreichen, um den Bettlern Angst einzujagen! Aus Hunger würden sie verharren und seiner Botschaft lauschen, bis ihr Essen ausgegeben wurde. Die Furcht vor einem leeren Magen würde jede Aufmüpfigkeit bei seiner Rede verhindern.
Kala zuckte mit den Schultern. »Soll der Abschaum ruhig auf seinen Fraß warten. Was denkst du eigentlich, wo du hier bist, Lee? Sieh dich mal um.« Die Blondhaarige machte eine ausschweifende Handbewegung, welche die Ebene so wie ganz Ab’Nahrim zu umfassen schien. »Wir leben im Müll. Ich lebe im Müll! Aber nicht für immer, verstehst du mich? Ich werde durch meinen Vater hier herauskommen und bald in den Zwergenhallen von Belerock wohnen. Du hingegen wirst in Ab’Nahrim bleiben, mit fünfzehn einen Hohlkopf von Minenarbeiter zum Mann nehmen, Schwächlinge in die Welt setzen und im Müll untergehen. Das ist dein Leben, Lee.«
Lee senkte betroffen den Blick. Es war nicht der Hass auf Kala, der sie wie ein glühendes Eisen im Inneren traf, vielmehr die Wahrheit, die die Lügnerin diesmal getroffen hatte. Nichts fürchtete Lee mehr als ihre Zukunft. Oft lag sie nachts wach und lauschte Bregas Schnarchen im Nebenzimmer, in dem er und Vran schliefen. Sie sah sich selbst in ein paar Jahren. Am Tag umringt von Kindern, am Abend schwitzend einen Bottich voll Pilze kochend, nachts eingesperrt in einer Ruine, gefangen im Bett mit irgendeinem Mann, während ihr Leben an ihr vorbeizog. Nein, so konnte und würde sie nicht leben …
Plötzlich schrien die Bettler auf. Gerade eben noch mit Verwünschungen um sich werfend, ergingen sie sich nun in hellen Lobpreisungen.
»Ach, Vater kommt.« Wie die anderen wandte sich Kala nun der Front der Pyramide zu. Serno drehte Lee ebenfalls herum. Bei dem Ansturm der Leute war es unmöglich, weiter vor zu gelangen. Ungeachtet dessen hatte Lee von ihrer Position aus einen guten Blick auf das Podium vor der Pyramide. Von der linken Seite erschienen schwarz gekleidete Mitglieder der Schattenhand und schritten zielstrebig zum Platz. Lee belächelte die armseligen Doppelgänger. Nun versuchte die Schattenhand, ihren Idolen gar in Sachen Kleidung nachzukommen. Ihre schwarzen Mäntel sollten an die Seidenroben der Dunkelmagier erinnern.
Die fünf Möchtegern-Magier erklommen das marmorne Podium. Sofort stellte sich ein Ring aus Eisorks um sie. Die vier Schattenhand-Fanatiker flankierten einen in ihrer Mitte; es musste Kalas Vater sein. In dem Moment, wo er an den Marmoraltar trat, wusste Lee, dass sie versagt hatte. Nur ein Zeichen hatte sie heute setzen wollen, um zu sagen: Ich nicht!
Kalas Vater holte ein Pergament hervor und rollte es auf dem Altar aus.
»Schau.« Kala deutete auf die Menschen um sie herum, die alle in Schweigen verfallen waren. »Sie wissen, wer hier das Sagen hat.«
»Sie sind wegen dem Essen hier und würden alles tun, für etwas Brot und Pilze!«, widersprach Lee. »Ein wenig Gebrabbel über heuchlerischen Frieden wird nichts ändern.«
Unerwartet schnell
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