Die Erben der Nacht 04 Dracas
passieren wird. Dieses Mal werden wir ein ruhiges Akademiejahr erleben, in dem wir unsere Kräfte ganz den neuen magischen Fähigkeiten widmen können«, sagte sie voller Zuversicht.
Ob sie insgeheim wusste, dass es anders kommen sollte? Ihr Blick wanderte zum Nachthimmel empor, wo eine Schar Raben über ihren
Köpfen kreiste, sich dann nach Norden wand und ihren Blicken entschwand. Mit abwesender Miene reichte Ivy Luciano ihren Arm und ließ sich über den Bahnsteig führen. Luciano fragte sich, woran sie gerade dachte. Nur Alisa berichtete fröhlich von ihrer Anreise und schien sich der düsteren Stimmung nicht bewusst, die sich unvermittelt wie ein schwarzer Schleier über sie legte.
Zu viert nahmen sie in dem offenen Landauer Platz. Die Pferde zogen an. Die Kutsche, in der Chiara und Maurizio saßen, und die beiden Karren, die das Gepäck transportierten, entschwanden bereits ihren Blicken. Der Fiaker folgte einer breiten Straße, zu deren Rechten sich zwei prächtige Schlösschen erhoben, die durch einen lang gezogenen Park verbunden waren. Die barocke Fassade des höher am Hang gelegenen Gebäudes spiegelte sich im davorliegenden See.
»Wie schön!«, rief Alisa entzückt. »Wer wohnt dort?«
Franz Leopold hob die Schultern. »Eigentlich niemand mehr. Die beiden Belvederes gehören inzwischen den Habsburgern, die sie für ihre Kunstsammlung nutzen oder ab und zu eine Redoute in den Prunkräumen veranstalten. Erbaut wurden sie für Prinz Eugen von Savoyen, den die Wiener so gerne als ihren Helden und Retter vor der Türkengefahr sehen. Sie bezeichnen ihn als ihren edlen Ritter und vergessen großzügig, dass er Franzose war und folglich aus dem Land ihrer Erzfeinde stammte. Und auch an die Gräueltaten will sich keiner mehr erinnern, die er als Feldherr auf seinen Kriegszügen an mancher Stadtbevölkerung beging. Das könnte ja den Glanz der edlen Rüstung trüben, die sie ihm angedichtet haben.« Franz Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht so wichtig. Ein großer Feldherr war er allemal.«
Sie näherten sich der Stadt. Die vereinzelten zwischen Gärten verteilten niedrigen Häuser wurden von mehrstöckigen Stadtpalais und Zinshäusern abgelöst. Die Kutsche überquerte einen lang gestreckten Platz, auf dem ein Brunnen eine unvorstellbar hohe Wasserfontäne in den Himmel spie, die alle umstehenden Gebäude um Längen überragte.
»Was für ein außergewöhnlicher Brunnen!«, bemerkte Ivy. »Wien scheint gutes Wasser im Überfluss zu haben.«
Franz Leopold schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Die Wasserversorgung war immer ein großes Problem. Vor allem wenn die Wien und die Donau durch Hochwasser verschmutzt wurden, brach immer wieder die Cholera aus. Aber seit einigen Jahren gibt es in Wien die Erste Kaiser-Franz-Joseph-Hochquellleitung, ein Wunder der modernen Technik: Sie sammelt das Wasser aus Quellen in den Bergen, die mehr als einhundert Kilometer entfernt sind. Mit dem Brunnen wollen sich die Erbauer wohl täglich an ihre großartige Leistung erinnern, die den Wienern endlich gutes Trinkwasser beschert.«
Sie fuhren weiter. Trotz der nächtlichen Stunde herrschte auf den Straßen noch reger Verkehr. Allerdings waren es eher schwer beladene Gefährte als Fiaker oder vornehme Privatkutschen, die sie in flottem Tempo überholten. Einige der Fuhrknechte schrien ihnen Verwünschungen hinterher und hoben die Fäuste, doch das schien Franz Leopolds Schatten Matthias, der auf dem Kutschbock saß, nicht zu stören.
»Über die großen Plätze darf man nur noch im Schritt fahren und in den restlichen Straßen der Stadt höchstens im kleinen Trab. Man kann die Unfälle kaum mehr zählen, die durch unvorsichtige Fiaker verursacht werden.« Franz Leopold grinste breit. »Aber die Männer der Sicherheitswache, die nachts auf Patrouille gehen, würden es nie wagen, eine Kutsche mit einem fürstlichen Wappen anzuhalten, um dem Kutscher ein Strafgeld aufzubrummen. So etwas trifft nur die kleinen Leute.«
»Das ist ungerecht!«, protestierte Alisa.
Franz Leopolds Augen glitzerten. »Ja, aber praktisch.«
Am Ende des Platzes bog Matthias in halsbrecherischem Tempo in eine erstaunlich breite Allee ein, die von prächtigen jungen Rosskastanien gesäumt wurde. Nur an einigen Stellen standen Platanen, denen das Wiener Klima aber nicht so recht zu bekommen schien.
»Matthias, kannst du etwas langsamer fahren, damit wir uns in Ruhe umsehen können?«, rief Ivy, die von dem Anblick der
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