Die Erben der Nacht 04 Dracas
als Quartier dienen wird, bis die Speicherstadt steht. Du glaubst nicht, wie schnell die modernen Bauten aus Eisenträgern und Backsteinen Tag für Tag in die Höhe wachsen. Sie haben Pfähle in das sumpfige Gelände der Wandrahminsel gerammt, auf denen die riesigen Speicherbauten ruhen können …«
Luciano hörte schon gar nicht mehr zu. Sein Blick wurde von einer zierlichen Gestalt mit silbernem Haar angezogen, die nun auf ihn zukam, wie gewohnt den weißen Wolf an ihrer Seite.
Ivy-Máire de Lycana reichte ihm ihre schmale, weiße Hand und sah ihn aus ihren türkisfarbenen Augen so intensiv an, dass Luciano fürchtete, ihm könne schwindelig werden.
Die volle Stimme wollte nicht so recht zu dem mädchenhaft schlanken Körper passen. »Luciano, welch Freude, dich wiederzusehen.«
Alisa hakte sich bei der Freundin aus Irland unter. »Wie er gewachsen ist. Und nicht nur das!«, sagte sie noch immer mit Bewunderung in der Stimme.
Ivy nickte und ergänzte neckend: »Du hast recht. Er ist ein richtiger Adonis geworden.«
Lucianos Lächeln verblasste, als er die beiden Vampirinnen so nebeneinander stehen sah. Ja, er hatte sich deutlich sichtbar weiterentwickelt. Ebenso Alisa und all die anderen Erben. Umso deutlicher musste jedem ins Auge fallen, dass Ivy noch immer in dem unveränderten Körper der Dreizehnjährigen steckte, den sie einst als Mensch besessen hatte.
Vierzehn! Ich war vierzehn. Mach mich nicht jünger als ich bin, erklang Ivys Stimme ein wenig tadelnd in seinem Kopf.
»Das ist nichts, worüber man scherzen sollte«, murmelte der Nosferas. »Wenn die anderen Augen im Kopf haben und dich nur einmal wachen Sinnes ansehen, dann drängt sich ihnen die Wahrheit geradezu auf!«
Ivy schüttelte den Kopf. »In manchen Dingen sind Vampire so blind wie Menschen. Auch sie sehen nur, was sie sehen wollen und was ihr Wissen ihnen eingibt: eine Erbin der Lycana!«
»Ich sehe es aber und ich wage mir nicht auszumalen, was passiert, wenn die Dracas dein Geheimnis erfahren.«
Eine Unreine in der Mitte ihrer Erben! Ivy aus der Akademie zu verbannen, wäre noch das Harmloseste, was sie tun würden. Luciano warf Franz Leopold einen forschenden Blick zu. Dessen Miene war nun grimmig.
»Dann sollten wir zusehen, dass es ein Geheimnis bleibt!«
Luciano erwiderte den Blick. »Was siehst du mich so an? Ich werde es niemandem sagen, da kannst du sicher sein!«
»In unserem Haus muss man nicht nur auf seine Worte achten!«, fügte Franz Leopold hinzu. Auch auf seine Gedanken!
Luciano presste sich beide Handflächen auf die Schläfen, so sehr dröhnte die Stimme des Dracas in seinem Kopf.
»Verflucht, was soll das?«
Franz Leopold hob die Schultern. »Ich habe dich lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass du selbst mit deinen leichtsinnigen Gedanken Ivy am meisten in Gefahr bringst. Erschreckt sah Luciano zu Ivy, doch die schien alles andere als beunruhigt zu sein. Oder sie verstand es wieder einmal meisterlich, ihre Sorgen vor ihren Freunden zu verbergen. Noch einmal griff sie nach Lucianos Händen.
»Du wirst mich ganz sicher nicht verraten, denn wenn du an mich denkst, siehst du mich nicht als eine Unreine. Auch Leo hat es nicht in deinem Geist gefunden, obwohl du die Wahrheit längst kanntest.«
Franz Leopolds Miene verfinsterte sich. »Lasst uns gehen. Die Fiaker sind längst vorgefahren und die anderen steigen bereits ein.«
Er drehte sich abrupt um und ging mit langen Schritten davon. Offensichtlich wollte er nicht an den für ihn so schmerzlichen Moment zurückdenken, an dem er hatte erkennen müssen, dass die Vampirin, in die er sich verliebt hatte, nicht reinen Blutes war und sie alle getäuscht hatte. Wieder einmal fragte sich Luciano, welche Enttäuschung für den Dracas schwerer wog. Er jedenfalls verübelte Ivy nicht, dass sie ihre Abstammung vor ihnen geheim gehalten hatte, und er fand auch nichts dabei, dass sie eine Unreine war, obgleich er sie nie auf die Ebene der Servienten stellen würde. Ivy war etwas ganz Besonderes! Und das würde sie für ihn auch immer bleiben.
»Ganz egal, was passiert, ich bin für dich da und bleibe an deiner Seite«, sagte er, obgleich ihm bewusst war, dass sie - trotz des mädchenhaften Körpers - Kräfte besaß, die er nicht einmal erahnen konnte. Und dann war da noch Seymour, der Werwolf und Bruder an ihrer Seite. Sein Schwur war einfach nur lächerlich!
Ivy schien das nicht zu denken. Sie lächelte ihn an und dankte ihm. »Auch wenn ich denke, dass gar nichts
Weitere Kostenlose Bücher