Die Erben der Nacht 04 Dracas
Leopolds Cousinen erinnerte.
»Genau«, gab er zurück. »Es freut mich, dass selbst eine Vamalia die Notwendigkeit dieser Konstruktion erkennt.«
Obwohl die Art ihrer Wortgefechte Luciano an frühere Streitereien erinnerte, fand er, dass beider Tonfall weicher geworden war. Sie lächelten einander sogar an.
Ein Servient öffnete mit einer Verbeugung den Wagenschlag und reichte den Vampirinnen die Hand zum Aussteigen, ohne dass Luciano die Chance erhielt, Ivy seine Hilfe anzubieten.
»Meint er, wir würden ohne seine Hilfe über unsere eigenen Röcke fallen?«, murmelte Alisa ein wenig verärgert.
Ivy schüttelte den Kopf. »Es ist einfach nur eine Geste der Höflichkeit und der Ehrerbietung.«
»Der Dracas anderen Clans gegenüber? Das kann ich mir kaum vorstellen«, widersprach Alisa. »Du wirst doch nicht glauben, sie hätten sich geändert?«
Ivy lächelte ein wenig gezwungen. »Man darf doch wenigstens hoffen.«
»Pah, nicht auf Dinge, die unmöglich sind!«, gab Alisa zurück und warf dem Servient einen misstrauischen Blick zu. Der jedoch schien durch sie hindurch zu sehen. Hölzern verbeugte er sich.
»Darf ich die Herrschaften hier entlang die Treppe hinaufbitten? Sie werden in der Galerie erwartet.«
Die vier Freunde stiegen die Treppe zu einem von Säulenpaaren getragenen Vorplatz hinauf, wo die eigentliche Prunkstiege in die Beletage begann. Im ersten Stock mussten sie noch eine Vorhalle durchschreiten, ehe sich die Flügeltüren in die Galerie öffneten. Geblendet vom verschwenderischen Glanz der Kerzen in Kristalllüstern traten die Erben ein, um sich von den Oberhäuptern der Dracas zu einem weiteren Akademiejahr begrüßen zu lassen.
Die Raben umkreisten das Palais Coburg, ohne der um das Dach verlaufenden Steinbalustrade oder auch nur dem schmiedeeisernen
Stafettenzaun, der um den Garten und die Terrasse verlief, zu nahe zu kommen. Es war, als hielte ein unsichtbarer Bann sie auf Abstand. Und dennoch schienen sie jede Bewegung rund um das Haus genau zu beobachten. Zwei von ihnen ließen sich auf dem First eines Pavillons nieder, der zur Anlage der Gartenbaugesellschaft gehörte, und beäugten die Gestalten, die sich vor dem Palais müßig auf der Terrasse ergingen. Zwei andere nahmen auf den Gaslaternen vor dem Haus gegenüber in der Seilerstätte Platz, während die anderen weiter ihre Runden um das Anwesen drehten. Sie konnten sehen, wie die Kutschen mit den Erben durch die Einfahrt verschwanden und kurz darauf zwei der Fahrzeuge aus einem anderen Tor auf die Straße zurückkehrten.
Einer der Raben, vermutlich der größte unter ihnen, dessen eines Auge weißlich trüb schimmerte, stieß unvermittelt ein heiseres Krächzen aus, worauf die anderen ihre Beobachtungsposten verließen und sich dem Rest des Schwarms anschlossen. Sie drehten noch eine Runde, ehe sie nach Nordwesten davonflogen.
Die Raben hielten auf den hoch aufragenden Turm des Doms zu und umkreisten ihn einmal, ehe sie ihren Weg fortsetzten. Kurz dahinter erhob sich die barocke Peterskirche mit ihrer weitgespannten Kuppel. Die Raben hatten sie noch nicht erreicht, als plötzlich Fledermäuse aus einer Öffnung in der Fassade des Ostturms zu quellen begannen. Erst waren es nur ein Dutzend, dann wurden es immer mehr, bis eine wogende Wolke die Raben einzuhüllen schien. Fledermäuse - selbst die großen Abendsegler mit ihrer Spannweite von mehr als einer Elle - zählten nicht gerade zu den Tieren, vor denen sich ein Rabe in Acht nehmen müsste. Eher im Gegenteil! Doch dieser Schwarm von Tieren, die sie immer dichter umhüllten und pfeilschnell mit ihrem schrillen Pfeifen von allen Seiten auf sie herabschossen, irritierte die Raben. Sie ließen sich von ihrem Weg abdrängen und ergriffen die Flucht. Erst über dem Michaelerplatz vor der Hofburg ließen die Fledermäuse von ihnen ab, zerstreuten sich und kehrten zur Peterskirche zurück.
Die Raben flogen einige Runden über den Dächern der Hofburg und spähten misstrauisch nach allen Richtungen, doch die Fledermäuse kehrten nicht wieder. Der Einäugige rief sie schließlich
zusammen, um ihren Weg zum Währinger Friedhof fortzusetzen.
Er war einer der Friedhöfe, die Kaiser Joseph II. Ende des achtzehnten Jahrhunderts außerhalb des Linienwalls hatte anlegen lassen, nachdem auf sein Befehl hin aufgrund der schlechten Trinkwasserqualität die Kirchhöfe und Grüfte der Stadt geschlossen worden waren. Die meisten hier Begrabenen waren Patienten des allgemeinen Spitals im
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