Die Erben der Schwarzen Flagge
ungefähr, dass Bricassart eine Mannschaft von lebenden Toten unterhält.«
»Das ist Unfug.«
»So dachte ich früher auch. Aber seit ich diese Augen gesehen habe, bin ich anderer Ansicht. Die Kerle zeigen keine Furcht. Sie bewegen sich auffallend langsam, und wenn man auf sie schießt, unternehmen sie keine Anstalten, in Deckung zu gehen. Der Grund dafür liegt auf der Hand – sie sind bereits tot.«
»Was für ein Unsinn.«
»Du hältst das für Unsinn?« Mit der blutigen Rechten deutete Jim auf Pater O’Rorke. »Frag den Priester. Wenn du mir nicht glaubst, dann glaub wenigstens ihm. Im Übrigen ist es mir völlig egal, was du tust, du selbstsüchtiger, überheblicher Bastard.« Damit wandte sich Jim ab und ging wutschnaubend zurück an seine Arbeit. Es war gut, dass das Wildschwein bereits tot war, sonst hätte es den gesammelten Zorn des jungen Afrikaners zu spüren bekommen.
Betroffen blieb Nick zurück. Ihm war nicht klar gewesen, dassseine Entscheidung den Freund so wütend machen würde. Was erwartete Jim von ihm? Was, in aller Welt, sollte er denn tun?
Als Kapitän der Seadragon wäre es seine Pflicht gewesen, Jim für sein Verhalten zu maßregeln. Aber sein Schiff lag in Trümmern, er hatte kein Kommando mehr – und das traurige Häufchen Männer, das ihm verblieben war, konnte man wohl kaum als Mannschaft bezeichnen.
Nick wandte den Kopf und blickte Pater O’Rorke fragend an. »Der Junge hat Recht, Nick«, sagte der Mönch daraufhin leise. »Es heißt tatsächlich, dass auf der Leviathan lebende Tote ihren Dienst versehen und dass Bricassart sich dunkler Kräfte bedient, um den Männern ihre Seelen zu rauben und sie seinem Willen zu unterwerfen.«
»Und so etwas glaubt Ihr?«
»Ich weiß es nicht«, gestand O’Rorke offen. »Die Grenzen zwischen Glauben und Aberglauben sind fließend, mein junger Freund, und was gestern noch für unmöglich gehalten wurde, mag heute bereits Wirklichkeit sein. Aber ich habe gesehen, was ich gesehen habe – und jene Männer, die Cayenne überfallen haben, hatten nichts Menschliches an sich, da gebe ich Jim Recht. Außerdem …«
»Außerdem was?«, hakte Nick nach.
Der Pater zögerte einen Augenblick. »Nichts«, beschwichtigte er dann. »Im Augenblick macht es keinen Unterschied.«
»Gut«, knurrte Nick – er war ohnehin nicht aufgelegt, sich mit Denkaufgaben zu befassen. Er biss die Zähne zusammen, und ungeachtet der Schmerzen gelang es ihm, sich aufzusetzen. Obwohl Pater O’Rorke heftig protestierte, griff Nick nach einem Stück Ast und stemmte sich damit auf die Beine.
»Gleich, was ihr von mir denkt, ich werde nach Port Royal aufbrechen«, verkündete er mit grimmiger Entschlossenheit. »Undversucht verdammt noch mal nicht, mich davon abzubringen. Ihr habt schon genug für mich getan – und ich habe euch schon genug Unglück gebracht.«
Damit stampfte er los, ungeachtet der Tatsache, dass er barfüßig war und nur seine Bordhosen trug, dass er weder Proviant noch einen Kompass bei sich hatte und noch nicht einmal wusste, in welche Richtung er zu gehen hatte. Alles in ihm drängte ihn dazu, das Lager zu verlassen und seinen Freunden, die ihm das Leben gerettet hatten, während er sie nur enttäuscht hatte, aus den Augen zu gehen.
Unter wüsten Verwünschungen schlug er sich in die Büsche, schleppte sich unter riesigen Farnen und zwischen eng stehenden Bäumen hindurch, deren knorrige Stämme von Schlinggewächsen überzogen waren – um schon nach wenigen Schritten zu verharren. Lianenverhangenes Dickicht versperrte ihm den Weg. Er war in einer Sackgasse gelandet und wusste nicht weiter – und das im zweifachen Sinn.
Schwer atmend stand Nick da und lauschte dem pulsierenden Schmerz in seiner Schulter, hatte das Gefühl, dass er jeden einzelnen Stich verdient hatte. Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen.
Blinzelnd blickte er hinauf zum grünen Blätterdach. Wärmende Sonnenstrahlen fielen in seine noch leichenblassen Züge, aber sie vermochten ihm keinen Trost zu spenden. Plötzlich vernahm Nick hinter sich ein Rascheln. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es O’Rorke war.
»Sohn …«, begann der Mönch, aber Nick ließ ihn gar nicht erst ausreden.
»Verschwindet, Pater«, sagte er barsch, und O’Rorke blieb unbeirrt stehen.
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Nick. Er wandte dem Mönchweiter den Rücken zu, um seine Tränen nicht zu zeigen. »Mich trösten? Dann spart Euch Euren Atem, denn für mich gibt es
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