Die Erdfresserin
sich unauffällig in den Lagerraum hinter der Bar, um die Magie des Moments nicht zu stören.
Der Junge tritt wieder ein.
»Ich hab’s schon erledigt«, sagt der Dicke unvermittelt. »Gehen wir.«
Der Junge sieht überrascht aus, aber auch erleichtert, kein weiterer Papierkram für ihn heute Nacht. Er gähnt, sein Kindergesicht bekommt etwas noch Weicheres. »Geh vor«, der Dicke erhebt sich und macht Anstalten, das mit Blut besudelte Klo zu betreten. »Ich komm gleich.«
Ich sehe ihn immer noch schweigend an und schließe langsam die Bluse mit den verbliebenen Knöpfen. Der junge Mann schlendert beschwingt hinaus, er pfeift, er packt einen in weißes Wachspapier verpackten Gegenstand aus und wirft die Serviette, die drinnen liegt, hinter sich. Sie flattert langsam wie eine weiße Fahne neben dem Polizeiwagen zu Boden. Der Dicke kommt wieder aus der Toilette, sein Gesicht ist ganz nass, er geht an mir vorbei, ohne mich anzuschauen. Bei der Tür dreht er sich plötzlich um. Mein Herz nimmt noch einmal kräftig Anlauf unter der Gänsehaut, die Kragenspitzen der Bluse wippen im Takt.
»Wie heißt das Buch?«, fragt er.
»Idiot«, antworte ich und muss mir ein unpassendes Lachen verkneifen. Durch das Fenster sehe ich seinen Kollegen, der hinter dem Steuer sitzt, herzhaft in eine Wurstsemmel beißen. »Dostojewski.«
»Ich heiße Leopold.«
Seine Stimme ganz heiser und nah an meinem Ohr. Wieder bekommt sein Gesicht etwas entsetzlich Gehetztes.
»Leo.«
*
Ich liege auf Leos braunem Schnürlsamtsofa, einen karierten Polster hinter meinen Schulterblättern, meine nackten Füße unter der Plüschdecke, es ist warm. Draußen höre ich die Autos durch die Pfützen der regennassen Straße fahren. Es ist dunkel, schon früh am Nachmittag dunkel, und ich habe voller Vorfreude an der Samtschnur der Messinglampe gezogen, um das angenehme leise Klicken zu hören, bevor meine Lagerstatt in gedämpftes Licht getaucht wird. Ich mag dieses Klicken, es verspricht Komfort und ruhiges Leben, genauso wie die Zentralheizung und die dicken Samtvorhänge, die nach Rauch und Essensdämpfen riechen. An der Wand über mir hängt ein kleines Gamsgeweih auf Holzbrettchen montiert, ich betrachte die zarte Schädeldecke, aus der die dunkel verzweigten Hornästchen sprießen, und muss unweigerlich an kleine Teufelchen denken, die wahrscheinlich von einem Jäger in grünem Loden zur Strecke gebracht worden sind. Ich habe noch einige Stunden Zeit, bis Leo von der Arbeit heimkommt. Zeit nur für mich, ich kann tun und lassen, was immer ich möchte, mich duschen zum Beispiel, etwas aus dem Kühlschrank nehmen, Leos Fernseher aufdrehen und einen passenden Sender suchen, Leo hat viele Kanäle, über neunzig, mir ist unbegreiflich, wofür man so viel Auswahl braucht.
Ich trinke Tee und lese das Buch, das ich so oft lese, wenn ich mich aus dem Hier und Jetzt entfernen will, das Buch, das ich immer mithabe als meine persönliche Medizin, die ich nun als Rekonvaleszente einnehme, weil Zeit und Raum dafür bleiben. Das Buch, das damals zwischen uns gefallen ist und unsere Annäherung entzündet hat. Ich versuche, nicht an Nastja zu denken, die immer öfter Nacht für Nacht alleine in unserem Zimmerchen schläft, alleine frühstückt, alleine abends aufbricht oder, wenn sie Glück hat, auch untertags. Den Stricküberwurf nur noch über ihre Matratze gebreitet, meine ist aufgestellt an der Wand. Sie hat jetzt mehr Platz und mehr Stille. Sie ruft mich nicht oft an, weil sie kein Geld verschwenden möchte, und ich rufe nur ungern zurück, wenn Leo da ist, um ihn nicht zu verärgern. Er mag es nicht, wenn er mich in einer fremden Sprache reden hört, das macht ihn wieder misstrauisch, macht mich weniger wert, und ich bemühe mich redlich, passend zu bleiben. Noch mehr quält mich die Angst, er könnte Nastjas Nummer herausfinden und ihre Stimme trotz aller Schauspielkunst erkennen. Ich habe sofort ihr Bild vor Augen, wie sie im Regen steht.
Ich will nicht an Nastja denken, noch an Leo, ich trinke den nächsten Schluck und spüle beide mit dem süßherben Geschmack aus meinem Bewusstsein, in dem sie nichts verloren haben, ich will lesen. Meine Gedanken schweifen ab und können dem Verlauf der Geschichte nicht folgen, obwohl ich das Buch nun zum dritten Mal lese. Dostojewskis Geschichte wandelt sich unerwartet zu einer fremden, während unsere Leo-Geschichte zu einer weniger fremden wird, jeden weiteren Tag, den ich in dieser Wohnung verbringe. Jede Nacht,
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