Die Erfindung der Einsamkeit
schreiben können. Ich scheine mit irgendeinem geistigen Manko geschlagen, so dass ich mich nicht auf mein Vorhaben konzentrieren kann. Wieder und wieder habe ich meine Gedanken von der vor mir liegenden Aufgabe abschweifen sehen. Kaum habe ich an etwas Bestimmtes gedacht, beschwört dies etwas anderes herauf, und dann wieder etwas anderes, bis die Einzelheiten sich dermaßen häufen, dass ich zu ersticken glaube. Noch nie bin ich mir der Kluft zwischen Denken und Schreiben so bewusst gewesen. Seit einigen Tagen nun beginne ich zu glauben, dass die Geschichte, die ich zu erzählen versuche, sich irgendwie nicht mit der Sprache vereinbaren lässt, dass ihr Widerstand gegen sprachliche Vereinnahmung immer mehr zunimmt, je näher ich daran bin, etwas Wichtiges zu sagen, und dass ich, wenn der Augenblick kommt, wo ich das eine wirklich Wichtige sagen muss (vorausgesetzt, es existiert), es nicht werde sagen können.
Es hat da eine Wunde gegeben, und jetzt erkenne ich, sie ist sehr tief. Anstatt mich, wie ich angenommen hatte, zu heilen, hat das Schreiben diese Wunde offengehalten. Zuweilen habe ich ihren Schmerz sogar geballt in meiner rechten Hand gespürt, als ob sie mir, wenn ich den Stift nahm und auf das Papier drückte, auseinandergerissen würde. Anstatt meinen Vater zu begraben, haben diese Worte ihn mir am Leben erhalten, vielleicht intensiver als je zuvor. Ich sehe ihn nicht nur, wie er war, sondern wie er ist, wie er sein wird, und jeden Tag ist er da, schleicht sich in meine Gedanken ein, überfällt mich ohne Vorwarnung: Er liegt im Sarg unter der Erde, sein Körper ist noch unversehrt, Fingernägel und Haare wachsen. Ein Gefühl, dass ich, wenn ich irgendetwas begreifen will, in dieses Bild der Dunkelheit eindringen, ins vollständige Dunkel der Erde hinabtauchen muss:
Kenosha, Wisconsin. 1911 oder 1912. Nicht einmal er war sich des Datums sicher. Im Durcheinander einer großen Einwandererfamilie konnten Geburtsurkunden nicht als sonderlich wichtig betrachtet werden. Von Bedeutung ist, dass er das letzte von fünf überlebenden Kindern war – ein Mädchen und vier Jungen, alle in einem Zeitraum von acht Jahren geboren –, und dass seine Mutter, eine winzige, ingrimmige Frau, die kaum ein Wort Englisch sprechen konnte, die Familie zusammenhielt. Sie war die Matriarchin, der absolute Diktator, der Motor des Ganzen, der im Zentrum des Universums stand.
Da sein Vater 1919 starb, ist er, von der frühesten Kindheit abgesehen, vaterlos gewesen. In meiner Kindheit erzählte er mir vom Tod seines Vaters drei verschiedene Geschichten. In einer Version war er bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. In einer anderen war er von einer Leiter gestürzt. In der dritten war er während des Ersten Weltkriegs erschossen worden. Mir war klar, dass diese Widersprüche keinen Sinn ergaben, doch nahm ich das als Hinweis darauf, dass selbst mein Vater die Tatsachen nicht kannte. Da er noch so jung war, als es passierte – erst sieben –, vermutete ich, dass man ihm die wahren Umstände vorenthalten hatte. Freilich ergab auch dies keinen Sinn. Er hätte es ja von einem seiner Brüder erfahren können.
Alle meine Vettern erzählten mir jedoch, auch sie hätten von ihren Vätern verschiedene Erklärungen zu hören bekommen.
Von meinem Großvater wurde niemals gesprochen. Bis vor ein paar Jahren hatte ich noch nie ein Bild von ihm gesehen. Als wenn die Familie sich vorgenommen hätte, so zu tun, als hätte es ihn nie gegeben.
Unter den Fotos, die ich vorigen Monat im Haus meines Vaters gefunden habe, befand sich ein Familienporträt aus jener frühen Zeit in Kenosha. Alle Kinder sind darauf versammelt. Mein Vater, höchstens ein Jahr alt, sitzt auf dem Schoß seiner Mutter, und die anderen vier stehen im hohen, ungeschnittenen Gras um sie herum. Hinter ihnen sind zwei Bäume zu sehen, und hinter den Bäumen ein großes Holzhaus. Eine ganze Welt scheint aus diesem Porträt hervorzutreten: eine andere Zeit, ein anderer Ort, ein unzerstörbarer Eindruck von Vergangenheit. Als ich das Bild zum ersten Mal betrachtete, fiel mir auf, dass es in der Mitte entzweigerissen und dann ungeschickt wieder zusammengeflickt worden war, so dass einer der Bäume im Hintergrund unheimlich in der Luft hing. Ich nahm an, das Bild sei versehentlich zerrissen worden, und dachte nicht weiter darüber nach. Als ich es mir dann aber zum zweiten Mal ansah, untersuchte ich diesen Riss genauer und entdeckte einiges, das mir zuvor entgangen war; ich
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