Die Erfindung der Einsamkeit
Söhne nach Hause, «während Mrs. Auster laut Zeugenaussagen gerade im Schlafzimmer war und den jüngsten Sohn Sam zu Bett brachte. Sam [mein Vater] versicherte, er habe nicht gesehen, dass seine Mutter, als sie ihn ins Bett brachte, einen Revolver unter der Matratze hervorgezogen habe.»
Offenbar war mein Großvater dann in die Küche gegangen, um einen Lichtschalter zu reparieren, wobei einer meiner Onkel (der zweitjüngste Sohn) ihm mit einer Kerze leuchtete. «Der Junge sagte aus, er sei, als er den Schuss hörte und einen Revolver aufblitzen sah, in Panik aus dem Zimmer gerannt.» Meiner Großmutter zufolge hatte sich ihr Mann selbst erschossen. Sie gab zu, dass es einen Streit über Geldangelegenheiten gegeben habe, und «dann sagte er», fuhr sie fort, «‹einer von uns beiden ist jetzt dran, du oder ich›, und er drohte mir. Ich wusste nicht, dass er den Revolver hatte. Ich hatte ihn unter der Matratze meines Bettes aufbewahrt, und das wusste er.»
Da meine Großmutter kaum Englisch konnte, dürfte diese Erklärung sowie alle anderen, die ihr zugeschrieben wurden, von dem Reporter erfunden worden sein. Was auch immer sie tatsächlich gesagt hat, die Polizei glaubte ihr nicht. «Mrs. Auster wiederholte ihre Geschichte vor verschiedenen Polizeibeamten, ohne etwas daran zu ändern, und bekannte großes Erstaunen, als man ihr sagte, sie sei festgenommen. Sie gab dem kleinen Sam einen zärtlichen Gutenachtkuss und wurde dann ins Bezirksgefängnis gebracht.
Die beiden Auster-Söhne schliefen vergangene Nacht im Mannschaftsraum der Polizeiwache und wirkten heute Morgen vollständig erholt von dem Schock, den sie aufgrund der Tragödie in ihrem Haus erlitten hatten.»
Gegen Ende des Artikels erfährt der Leser über meinen Großvater dies: «Harry Auster war gebürtiger Österreicher. Vor einigen Jahren kam er in unser Land und lebte in Chicago, Kanada und Kenosha. Der Geschichte zufolge, die der Polizei erzählt wurde, begaben er und seine Frau sich später wieder nach Österreich, doch etwa um die Zeit, da er sich in Kenosha niederließ, kehrte seine Frau zu ihm hierher zurück. Auster erwarb eine Reihe von Häusern im zweiten Stadtbezirk und machte eine Zeitlang bedeutende Geschäfte. Er baute das große dreigeschossige Haus an der South Park Avenue und ein weiteres an der South Exchange Street, das unter dem Namen Auster-Haus bekannt ist. Vor sechs oder acht Monaten erlitt er einige finanzielle Rückschläge …
Vor einiger Zeit bat Mrs. Auster die Polizei, ihr bei der Überwachung ihres Mannes Hilfe zu leisten, da er angeblich ein Verhältnis mit einer jungen Frau habe, das, wie sie meinte, untersucht werden sollte. Auf diese Weise erfuhr die Polizei zum ersten Mal von jener Frau namens ‹Fanny› …
Viele Leute hatten am Donnerstagnachmittag mit Auster gesprochen, und sie alle sagten aus, er sei ihnen ganz normal vorgekommen und habe keinerlei Anzeichen dafür gezeigt, dass er sich das Leben nehmen wollte …»
Am nächsten Tag fand die gerichtliche Leichenschau statt. Mein Onkel, als einziger Zeuge des Geschehens, wurde zur Aussage vorgeladen. «Ein kleiner Junge, der mit traurigem Blick nervös an seiner Zipfelmütze herumzwirbelte, schrieb am Freitagnachmittag im rätselhaften Fall Auster das zweite Kapitel … Seine Versuche, den Namen der Familie zu retten, waren auf tragische Weise kläglich. Immer wieder, wenn er gefragt wurde, ob seine Eltern sich gestritten hätten, antwortete er: ‹Sie haben bloß geredet›, bis er schließlich, offenbar an seinen Eid denkend, hinzufügte: ‹und vielleicht gestritten – aber nur ein bisschen.›» Von den Geschworenen heißt es in dem Artikel, sie seien «seltsam bewegt gewesen von den Bemühungen des Jungen, sowohl seinen Vater als auch seine Mutter zu schützen».
Die Selbstmordtheorie war eindeutig nicht zu halten. Im letzten Absatz schreibt der Reporter, dass «von offizieller Seite sensationelle Entwicklungen angedeutet wurden».
Dann kam die Beerdigung. Sie gab dem anonymen Reporter Gelegenheit, der elegantesten Diktion viktorianischer Melodramen nachzueifern. Inzwischen war der Mord längst kein bloßer Skandal mehr. Man hatte ihn zu einem aufregenden Unterhaltungsstück umfunktioniert.
WITWE TROCKENEN AUGES AN AUSTERS GRAB
Mrs. Anna Auster am Sonntag unter Polizeibewachung
beim Begräbnis ihres Mannes Harry Auster
«Trockenen Auges und ohne das geringste Anzeichen von Bewegung oder Trauer hat am Sonntagvormittag Mrs. Harry
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