Die Erfindung der Einsamkeit
gesagt hatte, kniff er seinen Gesprächspartner nicht selten ins Bein – an einer Stelle, wo es kitzelte. Es machte ihm buchstäblich Spaß, einem ein Bein zu stellen.
Wieder das Haus.
Sosehr er es auch äußerlich vernachlässigt zu haben scheint, er hat an seine Methode geglaubt. Wie ein verrückter Erfinder, der das Geheimnis seines Perpetuum mobile bewahren möchte, litt er es nicht, dass irgendwer sich daran zu schaffen machte. Einmal haben meine Frau und ich vor dem Bezug einer neuen Wohnung drei oder vier Wochen lang in seinem Haus gelebt. Da wir das Dunkel des Hauses bedrückend fanden, zogen wir sämtliche Rollos hoch, um das Tageslicht einzulassen. Als mein Vater von der Arbeit zurückkam und sah, was wir getan hatten, geriet er in eine unbändige Wut, die in keinerlei Verhältnis zu irgendeinem Unrecht stand, dessen wir uns schuldig gemacht hätten haben können.
Derartige Wut trat bei ihm selten zutage – nur wenn er sich in die Enge getrieben, eingeengt, von der Gegenwart anderer erdrückt fühlte. Manchmal führten Geldfragen dazu. Oder irgendeine Kleinigkeit: die Rollos seines Hauses, ein zerbrochener Teller, ein unbedeutendes Nichts.
Gleichwohl, in seinem Innern loderte diese Wut – und zwar ständig, nehme ich an. Wie das Haus, das zwar gut bestellt war, aber von innen heraus zerfiel, war auch der Mann selbst ruhig, fast übernatürlich in seiner Unerschütterlichkeit, und dabei doch das Opfer einer machtvoll wühlenden, nicht aufzuhaltenden Wut in seinem Innern. Zeit seines Lebens bemühte er sich, eine Konfrontation mit dieser Wut zu vermeiden, indem er eine Art automatischen Verhaltens pflegte, das ihm erlaubte, sich an ihr vorbeizudrücken. Das Vertrauen auf eingefahrene Verhaltensweisen befreite ihn von der Notwendigkeit, in sich hineinzublicken, wenn es Entscheidungen zu treffen galt; Klischees gingen ihm stets schnell von den Lippen («Ein schönes Baby. Na dann viel Glück.»), aber keine Worte, die er sorgfältig hätte suchen müssen. All dies machte ihn als Persönlichkeit eher flach. Zugleich aber war es auch seine Rettung, das, was ihm zu leben gestattete. Jedenfalls insoweit er zum Leben fähig war.
Aus einer Tüte mit ungeordneten Bildern: eine Trickfotografie, aufgenommen in einem Studio in Atlantic City irgendwann in den vierziger Jahren. Er sitzt gleich mehrmals um einen Tisch, jedes Mal aus einem anderen Blickwinkel abgelichtet, so dass man es anfangs mit einer Gruppe verschiedener Männer zu tun zu haben glaubt. Da sie im Dustern und vollkommen reglos sitzen, machen sie den Eindruck, als seien sie zu einer Séance zusammengekommen. Und wenn man das Bild dann genauer betrachtet, erkennt man allmählich, dass alle diese Männer immer derselbe Mann sind. Die Séance wird zu einer echten Séance, so, als säße er dort nur, um sich selbst zu beschwören, sich selbst von den Toten zurückzuholen, als habe er sich durch seine Vervielfältigung versehentlich selbst zum Verschwinden gebracht. Er sitzt fünfmal dort, doch liegt es im Wesen der Trickfotografie, dass die verschiedenen Ausgaben seiner selbst keinen Blickkontakt miteinander haben können. Jeder einzelne ist dazu verurteilt, immerzu ins Leere zu starren, als lasteten die Blicke der anderen auf ihm, doch ohne etwas zu sehen, ohne je etwas sehen zu können. Es ist ein Bild des Todes, das Porträt eines Unsichtbaren.
Langsam begreife ich die Absurdität der Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Ich habe das Gefühl, ich versuche irgendwo hinzugelangen, als wüsste ich, was ich sagen wollte, aber je weiter ich gehe, desto stärker wird meine Überzeugung, dass der Weg zu meinem Ziel gar nicht existiert. Ich muss ihn mir selbst bahnen, und das bedeutet, dass ich mir nie sicher sein kann, wo ich mich eigentlich befinde. Als würde ich mich im Kreis bewegen, den einen Weg ständig wiederholen, in viele Richtungen zugleich gehen. Und selbst wenn mir wirklich ein kleiner Fortschritt gelingt, bin ich noch längst nicht überzeugt, dass er mich dorthin bringen wird, worauf ich zuzusteuern glaube. Dass man in der Wüste herumirrt, bedeutet noch lange nicht, dass irgendwo ein Gelobtes Land existiert.
Ganz am Anfang dachte ich, das Ganze würde mir spontan kommen, wie ein trancehafter Erguss. Mein Bedürfnis zu schreiben war so groß, dass ich glaubte, die Geschichte würde sich von selbst schreiben. Aber bis jetzt sind die Worte sehr langsam getröpfelt. Selbst an den besten Tagen habe ich nicht mehr als ein oder zwei Seiten
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