Die Erfindung der Einsamkeit
erwarten könnte. Schwer fällt lediglich, sie gedruckt – gewissermaßen dem Reich der Geheimnisse entrissen und zu einem öffentlichen Ereignis gemacht – zu sehen. Es sind über zwanzig, meist ausführliche Artikel, alle aus der Kenosha Evening News . Selbst in diesem kaum noch lesbaren Zustand, fast unkenntlich vor Alter und Kopiefehlern, können sie einen noch schockieren. Ich nehme an, die Artikel sind typisch für den Journalismus jener Tage, aber das nimmt ihnen nichts von ihrer reißerischen Aufmachung. Sie stellen eine Mischung aus Skandalsucht und Rührseligkeit dar, noch gesteigert durch die Tatsache, dass die Beteiligten Juden waren – fast definitionsgemäß also sonderbare Leute –, was dem Ganzen einen anzüglichen, herablassenden Tonfall verleiht. Doch bei allen stilistischen Mängeln scheinen die Tatsachen festzustehen. Dass sie alles erklären, glaube ich nicht, aber zweifellos erklären sie eine ganze Menge. Ein Junge kann dergleichen nicht durchleben, ohne als Mann davon beeinflusst zu sein.
An den Rändern dieser Artikel kann ich einige der kleineren Nachrichten jener Zeit gerade noch entziffern, Ereignisse, die von dem Mordfall praktisch zu Belanglosigkeiten degradiert wurden. Zum Beispiel: die Bergung der Leiche Rosa Luxemburgs aus dem Landwehrkanal. Zum Beispiel: die Versailler Friedenskonferenz. Und Weiteres, wie es sich Tag für Tag ergab: der Fall Eugene Debs; eine Notiz zu Carusos erstem Film («Die Szenen … sollen äußerst dramatisch sein und sehr ans Herz gehen»); Kampfberichte vom russischen Bürgerkrieg; die Beerdigung von Karl Liebknecht und einunddreißig anderen Spartakisten («An der fünf Meilen langen Prozession beteiligten sich über fünfzigtausend Personen. Volle zwanzig Prozent von ihnen trugen Kränze. Niemand schrie oder jubelte»); die Ratifizierung des nationalen Prohibitionsgesetzes («William Jennings Bryan – der Mann, der Grapefruitsaft berühmt gemacht hat – stand mit breitem Lächeln dabei»); der von den Wobblies angeführte Textilarbeiterstreik in Lawrence, Massachusetts; der Tod von Emiliano Zapata, «Banditenführer in Südmexiko»; Winston Churchill; Bela Kun; Premier Lenine (sic); Woodrow Wilson; Dempsey gegen Willard.
Ich habe die Artikel über den Mord ein Dutzend Mal gelesen. Aber noch immer fällt es mir schwer zu glauben, dass ich sie nicht bloß erträumt habe. Mit der ganzen Gewalt von Bildern aus dem Unbewussten scheinen sie bedrohlich vor mir auf und verzerren die Wirklichkeit so, wie Träume es tun. Die dicken Schlagzeilen, die diesen Mord verkünden, lassen alles andere, was an diesem Tag auf der Welt passierte, ganz winzig erscheinen und verleihen damit dem Vorfall die gleiche egozentrische Bedeutung, die wir etwelchen Ereignissen in unserem Privatleben zumessen. Das ist so ähnlich wie mit der Zeichnung, die ein Kind anfertigt, wenn es von irgendeiner unaussprechlichen Angst gequält wird: Das Wichtigste ist immer das Größte. Die Perspektive geht auf Kosten der Proportion verloren – nicht das Auge, sondern die Bedürfnisse des Geistes führen die Feder.
Ich lese diese Artikel wie eine historische Darstellung. Aber auch wie eine Höhlenzeichnung, die ich an den Innenwänden meines Schädels entdeckt habe.
Die Schlagzeilen am ersten Tag, dem 24. Januar, bedecken über ein Drittel der Titelseite.
HARRY AUSTER ERMORDET
EHEFRAU FESTGENOMMEN
Bekannter ehemaliger Grundstücksmakler
am Donnerstagabend nach Familienstreit
wegen Geld – und einer Frau –
in der Küche des Hauses seiner Frau erschossen
FRAU NENNT IHREN MANN SELBSTMÖRDER
Toter hatte Schussverletzung an Hals und linker Hüfte
Frau gibt zu, Tatwaffe war ihr Eigentum
Kennt neunjähriger Sohn, Zeuge der Tragödie,
Lösung des Rätsels?
Der Zeitung zufolge «lebten Auster und seine Frau seit einiger Zeit getrennt, beim Bezirksgericht von Kenosha war ein Scheidungsverfahren anhängig. Sie waren mehrmals über Geldfragen in Streit geraten. Weiteren Anlass zu Zwistigkeiten gab die Tatsache, dass Auster mit einer jungen Frau Umgang [unleserlich], von der seine Frau nur den Namen ‹Fanny› kannte. Man geht davon aus, dass es bei dem Streit, der den Schüssen vorausging, um jene ‹Fanny› ging …»
Da meine Großmutter erst am achtundzwanzigsten ein Geständnis ablegte, kam es über den wahren Hergang der Ereignisse zu einiger Verwirrung. Mein Großvater (sechsunddreißig Jahre alt) kam um sechs Uhr abends mit «Kleidungsstücken» für seine beiden älteren
Weitere Kostenlose Bücher