Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Revolver, mit dem ihr Mann erschossen worden war. Als sie davon sprach, berührte sie ihn zögernd, zog aber gleich darauf die Hand mit merklichem Zittern zurück. Wortlos legte der Chief die Waffe beiseite und fragte Mrs. Auster, ob sie noch etwas hinzufügen wolle.
    ‹Das ist fürs Erste alles›, erwiderte sie gefasst. ‹Unterschreiben Sie für mich, und ich mache mein Zeichen darunter.›
    Ihre Anweisungen – einen Moment lang war sie fast wieder hoheitsvoll – wurden befolgt, sie bestätigte die Unterschrift und bat, in ihre Zelle zurückgebracht zu werden …»

    Bei der Anklageerhebung am nächsten Tag plädierte ihr Anwalt auf nicht schuldig. «Gehüllt in einen Plüschmantel und eine Fuchspelzboa, betrat Mrs. Auster den Gerichtssaal … Als sie vor dem Richtertisch Platz nahm, lächelte sie einer Freundin unter den Zuschauern zu.»
    Nach eigenem Eingeständnis des Reporters verlief die Anhörung «ereignislos». Dennoch konnte er es nicht unterlassen, folgende Bemerkung anzubringen: «Bei Mrs. Austers Rückkehr in ihre vergitterte Wohnstatt kam es zu einem Vorfall, der ein bezeichnendes Licht auf ihren Geisteszustand wirft.
    Eine Frau, der Beziehungen zu einem verheirateten Mann vorgeworfen wurden, war in der Zelle neben ihr eingeliefert worden. Als sie sie sah, fragte Mrs. Auster nach der Neuen und ließ sich die Einzelheiten des Falles erläutern.
    ‹Die sollte zehn Jahre bekommen›, sagte sie, als die Eisentür erbarmungslos hinter ihr zuschlug. ‹So eine wie die hat mich hierhergebracht.›»

    Nach einigen komplizierten juristischen Erörterungen betreffs Zahlung einer Kaution, von denen in den nächsten Tagen ausführlich zu lesen war, wurde sie auf freien Fuß gesetzt. «‹Haben Sie irgendwelche Bedenken, dass diese Frau nicht zum Prozess erscheinen wird?›, fragte das Gericht die Anwälte. Anwalt Baker gab die Antwort: ‹Wohin könnte eine Frau mit fünf solchen Kindern schon gehen? Sie hängt an ihnen, und das Gericht kann sehen, dass sie an ihr hängen.›»
    Eine Woche lang schwieg die Presse. Dann erschien am 8. Februar ein Artikel über «die aktive Unterstützung, die dem Fall von seiten einiger hebräischsprachiger Chicagoer Zeitungen zuteil wird. Einige dieser Zeitungen brachten Kolumnen über den Fall, und diese Artikel sprechen sich ganz eindeutig sehr zugunsten von Mrs. Auster aus …
    Freitag Nachmittag saß Mrs. Auster mit einem ihrer Kinder im Büro ihres Anwalts, und es wurden Teile dieser Artikel vorgelesen. Sie schluchzte wie ein Kind, als der Dolmetscher dem Anwalt den Inhalt dieser Zeitungen erläuterte …
    Anwalt Baker erklärte heute Morgen, die Verteidigung werde auf Mrs. Austers Unzurechnungsfähigkeit zur Tatzeit abstellen …
    Der Prozess gegen Mrs. Auster dürfte zu einem der interessantesten Mordprozesse werden, die je am Bezirksgericht Kenosha verhandelt wurden, und man erwartet, dass die bereits zur Verteidigung der Frau vorgebrachten menschlichen Aspekte des Falles im Lauf des Prozesses noch ausführlich zur Sprache kommen werden.»

    Dann einen Monat lang nichts. Am 10. März schließlich die Schlagzeile:
ANNA AUSTER BEGING SELBSTMORDVERSUCH
    Der Selbstmordversuch hatte 1910 in Peterboro, Ontario, stattgefunden – durch Einnahme von Karbolsäure und Aufdrehen des Gashahns. Der Anwalt übermittelte diese Information dem Gericht, um einen Aufschub des Prozesses zu erwirken, damit er einige eidesstattliche Erklärungen einholen konnte. «Anwalt Baker brachte vor, dass die Frau damit auch das Leben zweier ihrer Kinder gefährdet habe und dass dieser versuchte Selbstmord daher insofern von Bedeutung sei, als er die geistige Verfassung von Mrs. Auster zeige.»

    27. März. Der Prozess wurde für den 4. April anberaumt. Danach wieder eine Woche Schweigen. Und dann, am 4. April, als wäre das Ganze einfach ein bisschen zu langweilig geworden, eine neue Entwicklung.
AUSTER SCHIESST WITWE SEINES BRUDERS NIEDER
    «Heute Morgen um zehn Uhr unternahm Sam Auster, der Bruder von Harry Auster … einen vergeblichen Versuch, den Tod seines Bruders durch einen Schuss auf Mrs. Auster zu rächen … Der Schuss fiel vor dem Eingang zu Millers Lebensmittelladen …
    Auster folgte Mrs. Auster durch die Tür und gab einen Schuss auf sie ab. Mrs. Auster stürzte, obwohl der Schuss sie nicht getroffen hatte, auf den Bürgersteig, und Auster ging in den Laden zurück und erklärte laut Zeugenaussagen: ‹Ich bin froh, dass ich das getan habe.› Worauf er

Weitere Kostenlose Bücher