Die Erfindung der Einsamkeit
warmes Wasser. Zitrone? Nein, danke, nur warmes Wasser.
Noch einmal Blanchot: «Aber ich bin nicht mehr fähig, davon zu sprechen.»
Aus dem Haus: eine Urkunde über die Scheidung meiner Eltern, ordnungsgemäß ausgestellt im St. Clair County im Bundesstaat Alabama. Unterzeichnet von Ann W. Love.
Aus dem Haus: eine Armbanduhr, ein paar Pullover, ein Jackett, ein Wecker, sechs Tennisschläger und ein alter rostiger Buick, der kaum noch läuft. Ein Essgeschirr, ein Kaffeetisch, drei oder vier Lampen. Von der Bar eine Johnnie-Walker-Figur für Daniel. Das leere Fotoalbum. Unser Leben: die Austers.
Anfangs glaubte ich, es könnte mich trösten, an diesen Dingen festzuhalten, sie würden mich an meinen Vater erinnern und die Gedanken an ihn wachhalten, während ich mein Leben weiterführte. Gegenstände scheinen jedoch nichts anderes als Gegenstände zu sein. Schon habe ich mich an sie gewöhnt, schon betrachte ich sie als mein Eigentum. Ich lese die Zeit auf seiner Uhr ab, ich trage seine Pullover, ich fahre seinen Wagen. Doch all das verschafft bloß die Illusion von vertrautem Umgang. Ich habe mir diese Dinge bereits angeeignet. Mein Vater hat nichts mehr damit zu tun, ist schon wieder unsichtbar geworden. Und früher oder später werden sie kaputtgehen, und man wird sie wegwerfen müssen. Ich bezweifle, dass mir das irgendwie nahegehen wird.
«… hier gilt: Nur wer arbeitet, bekommt Brot, nur wer Qualen erlitten hat, findet Ruhe, nur wer in die Unterwelt hinabsteigt, errettet die Geliebte, nur wer das Messer zieht, bekommt Isaak … Wer nicht arbeiten will, muss zur Kenntnis nehmen, was über die Jungfrauen von Israel geschrieben steht, denn er gebiert nur Wind; wer aber arbeiten will, gebiert seinen eigenen Vater.» (Kierkegaard)
Zwei Uhr morgens. Ein überquellender Aschenbecher, eine leere Kaffeetasse und die Kälte des beginnenden Frühjahrs. Jetzt ein Bild von Daniel, wie er oben in seiner Wiege schläft. Mit dem hier aufhören.
Mich fragen, was er aus diesen Seiten machen wird, wenn er alt genug ist, sie zu lesen.
Und das Bild seines reizenden und wilden kleinen Körpers, wie er oben in seiner Wiege schläft. Mit dem hier aufhören.
(1979)
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Das Buch der Erinnerung
«Wenn ein Toter weint, so besagt dies, dass er sich auf dem Wege der Besserung befindet!», verkündete feierlich der Rabe.
«Ich bin untröstlich, meinem berühmten Kollegen und Freund widersprechen zu müssen», mischte sich der Kauz ein, «aber meine Meinung ist: Wenn ein Toter weint, so besagt dies, dass es ihm leidtut zu sterben.»
Collodi: Pinocchios Abenteuer
Er legt ein leeres Blatt Papier vor sich auf den Tisch und schreibt. Es war. Es wird nie wieder sein.
Später kommt er in sein Zimmer zurück. Er nimmt ein neues Blatt Papier und legt es vor sich auf den Tisch. Er schreibt, bis er die ganze Seite mit Worten bedeckt hat. Als er dann durchliest, was er geschrieben hat, kostet es ihn Mühe, die Worte zu entziffern. Die, die ihm nicht mehr begreiflich sind, scheinen ihm nicht zu sagen, was er zu sagen geglaubt hat. Dann geht er zum Abendessen aus.
In der Nacht sagt er sich, dass morgen auch noch ein Tag ist. Neue Worte beginnen in seinem Kopf zu lärmen, aber er schreibt sie nicht auf. Er beschließt, sich mit A. zu bezeichnen. Er geht zwischen Tisch und Fenster hin und her. Er stellt das Radio an und wieder aus. Er raucht eine Zigarette.
Dann schreibt er. Es war. Es wird nie wieder sein.
Heiligabend 1979. Sein Leben schien nicht mehr in der Gegenwart stattzufinden. Immer wenn er das Radio anmachte und den Nachrichten der Welt lauschte, ertappte er sich bei der Vorstellung, dass die Worte Dinge beschrieben, die vor langer Zeit geschehen waren. Auch wenn er in der Gegenwart stand, hatte er das Gefühl, sie aus der Zukunft zu betrachten, und diese Gegenwart-als-Vergangenheit war so antiquiert, dass ihm selbst die täglichen Schrecken, die ihn normalerweise mit Empörung erfüllt hätten, ganz fern zu sein schienen, als läse die Stimme im Radio aus der Chronik einer untergegangenen Zivilisation vor. Später, in einer Zeit größerer Klarheit, bezeichnete er dieses Gefühl als «Heimweh nach der Gegenwart».
Danach eine ausführliche Darstellung klassischer Erinnerungstechniken, samt Listen, Diagrammen und symbolischen Zeichnungen. Ramón Llull zum Beispiel, oder Robert Fludd, ganz zu schweigen von Giordano Bruno, dem großen Nolaner, der 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Orte und
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