Die Erfindung der Einsamkeit
ein Einsiedler, verbannt aus der Gemeinschaft der Menschen.»
Und Freitag? Nein, noch nicht. Es gibt keinen Freitag, zumindest nicht hier. Alle Geschehnisse gehen diesem Augenblick voraus. Oder: Die Wellen werden die Fußspuren weggespült haben.
Erster Kommentar über die Natur des Zufalls.
Damit fängt es an. Ein Freund erzählt ihm eine Geschichte. Etliche Jahre gehen dahin, und plötzlich muss er wieder an diese Geschichte denken. Nicht dass es mit dieser Geschichte anfängt. Eher ist ihm, indem er sich daran erinnert, bewusst geworden, dass irgendetwas mit ihm geschieht. Denn die Geschichte wäre ihm nicht eingefallen, wenn sich das, was auch immer sie ihm ins Gedächtnis gerufen hat, nicht bereits bemerkbar gemacht hätte. Ohne es selbst zu merken, hat er in einer fast verschwundenen Erinnerung herumgegraben, und nun, da etwas an die Oberfläche gekommen ist, kann er nicht einmal vermuten, wie lange er mit den Ausgrabungen beschäftigt war.
Während des Krieges hatte sich M.s Vater mehrere Monate lang in einer Pariser chambre de bonne vor den Nazis versteckt. Schließlich gelang ihm die Flucht nach Amerika, wo er ein neues Leben begann. Jahre vergingen, mehr als zwanzig Jahre. M. war geboren worden, herangewachsen, und ging jetzt zum Studium nach Paris. Dort angekommen, verbrachte er einige schwierige Wochen mit der Suche nach einer Wohnung. Gerade als er verzweifelt aufgeben wollte, fand er eine kleine chambre de bonne . Gleich nach seinem Einzug teilte er seinem Vater in einem Brief die gute Neuigkeit mit. Etwa eine Woche später bekam er Antwort: Deine Adresse, schrieb M.s Vater, bezeichnet dasselbe Gebäude, in dem ich mich während des Krieges versteckt habe. Und dann beschrieb er das Zimmer in allen Einzelheiten. Es ergab sich, der Sohn hatte eben dieses Zimmer gemietet.
Es beginnt daher mit diesem Zimmer. Und dann beginnt es mit jenem Zimmer. Und darüber hinaus ist vom Vater, vom Sohn und vom Krieg zu reden. Und von der Angst, und es muss bedacht werden, dass der Mann, der sich in jenem kleinen Zimmer versteckt hatte, Jude war. Des Weiteren: dass die Stadt Paris war, ein Ort, aus dem A. soeben zurückgekehrt war (am fünfzehnten Dezember), und dass er einmal ein ganzes Jahr lang in einer Pariser chambre de bonne gewohnt hatte – wo er seinen ersten Gedichtband schrieb und wo ihn sein Vater auf seiner einzigen Europareise einmal besuchen kam. Nicht zu vergessen der Tod seines Vaters. Und darüber hinaus: einzusehen – dies am allerwichtigsten –, dass M.s Geschichte keine Bedeutung hat.
Dennoch, damit fängt es an. Das erste Wort erscheint erst in einem Augenblick, da nichts mehr erklärt werden kann, zum Zeitpunkt einer Erfahrung, die sich jeder Deutung widersetzt. Nichts mehr sagen zu können. Beziehungsweise zu sich selbst sagen: Das ist es, was mich verfolgt. Und dann fast im gleichen Atemzug erkennen, dass dies es ist, was er verfolgt.
Er legt ein leeres Blatt Papier vor sich auf den Tisch und schreibt: Mögliches Motto für das Buch der Erinnerung.
Dann schlägt er ein Buch von Wallace Stevens auf (Opus Posthumous) und schreibt den folgenden Satz ab.
«Angesichts außerordentlicher Wirklichkeit nimmt das Bewusstsein den Platz der Phantasie ein.»
Später schreibt er drei oder vier Stunden lang ununterbrochen. Als er danach liest, was er geschrieben hat, findet er nur einen einzigen Absatz von einigem Interesse. Zwar ist er sich nicht sicher, was er damit anfangen soll, doch beschließt er, ihn für künftige Verwendung aufzubewahren, und kopiert ihn in ein liniertes Notizbuch:
Wenn der Vater stirbt, schreibt er, wird der Sohn sein eigener Vater und sein eigener Sohn. Er betrachtet seinen Sohn und erkennt sich im Gesicht des Jungen wieder. Er stellt sich vor, was der Junge sieht, wenn er ihn betrachtet, und merkt, wie er sein eigener Vater wird. Unerklärlicherweise bewegt ihn das. Ihn bewegt nicht nur der Anblick des Jungen oder der Gedanke, den Platz seines Vaters eingenommen zu haben, sondern vor allem, was er in dem Jungen von seiner eigenen verschwundenen Vergangenheit erblickt. Was er empfindet, ist vielleicht ein Heimweh nach seinem eigenen Leben, eine Erinnerung an seine eigene Kindheit als Sohn seines Vaters. Unerklärlicherweise zittert er in diesem Augenblick, falls das möglich ist, vor Glück und Kummer zugleich, als ginge er vorwärts und rückwärts in einem, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Und es gibt Zeiten, oft gibt es solche Zeiten, da diese Gefühle
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