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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Bilder als Katalysatoren für die Erinnerung an andere Orte und Bilder: Dinge, Ereignisse, die verschütteten Artefakte unseres Lebens. Mnemotechniken. Anschließend Brunos Vorstellung, dass die Struktur der menschlichen Gedanken der Struktur der Natur entspricht. Und daraus den Schluss ziehen, dass in gewisser Hinsicht alles mit allem verbunden ist.

    Gleichzeitig, quasi parallel zu dem Obigen, eine kurze Abhandlung über das Zimmer. Zum Beispiel das Bild eines Mannes, der allein in einem Zimmer sitzt. Wie bei Pascal: «Alles Unglück des Menschen ist auf einen einzigen Umstand zurückzuführen: dass er unfähig ist, still in seinem Zimmer zu bleiben.» Wie in dem Satz: «Er hat das Buch der Erinnerung in diesem Zimmer geschrieben.»

    Das Buch der Erinnerung. Buch Eins.
    Heiligabend 1979. Er ist in New York, allein in seinem kleinen Zimmer in der Varick Street 6. Wie viele Gebäude in dieser Gegend ist auch dieses früher ausschließlich ein Ort der Arbeit gewesen. Überbleibsel dieser früheren Bestimmung sind überall zu sehen: geheimnisvolle Rohrleitungsnetze, verrußte Blechdecken, zischende Dampfheizungen. Wann immer sein Blick auf das Milchglas der Eingangstür fällt, liest er in Spiegelschrift die ungeschickt mit einer Schablone aufgemalten Buchstaben: R.M. Pooley. Konzessionierter Elektriker. Leute hatten hier nicht wohnen sollen. Dieser Raum war gedacht für Maschinen, Spucknäpfe und Schweiß.
    Er kann das nicht sein Zuhause nennen, aber mehr hat er in den letzten neun Monaten nicht gehabt. Ein paar Dutzend Bücher, eine Matratze auf dem Boden, ein Tisch, drei Stühle, eine Kochplatte und eine rostige Spüle mit einem Kaltwasserhahn. Die Toilette befindet sich am Ende des Flurs, aber er benutzt sie nur zum Scheißen. Pissen tut er in die Spüle. Seit drei Tagen ist der Aufzug außer Betrieb, und da er im obersten Stockwerk wohnt, widerstrebt es ihm seitdem, nach draußen zu gehen. Nicht so sehr, weil er den zehn Treppenabsätze hohen Aufstieg fürchtet, sondern weil er es entmutigend findet, sich dermaßen zu verausgaben, nur um in diese Trostlosigkeit zurückzukehren. Wenn er längere Zeit in diesem Zimmer bleibt, gelingt es ihm meist, es mit seinen Gedanken anzufüllen, und dies wiederum scheint die Eintönigkeit zu vertreiben oder bewirkt zumindest, dass sie ihm nicht mehr bewusst ist. Jedes Mal wenn er ausgeht, nimmt er seine Gedanken mit, und während seiner Abwesenheit entleert sich das Zimmer allmählich seiner Bemühungen, es bewohnbar zu machen. Wenn er zurückkommt, muss er das Ganze wieder von vorne beginnen, und das erfordert Arbeit, echte geistige Arbeit. Aufgrund seines körperlichen Zustands nach dem Aufstieg (die Brust geht wie ein Blasebalg, die Beine sind steif und schwer wie Baumstämme) braucht es umso länger, bis er mit diesem inneren Kampf anfangen kann. In der Zwischenzeit, in dem Vakuum zwischen dem Augenblick, da er die Tür öffnet, und dem Augenblick, da er die Leere von neuem zu erobern beginnt, schlagen seine Gedanken in wortloser Panik um sich. Es ist, als wäre er gezwungen, sein eigenes Verschwinden zu beobachten, als dränge er mit dem Überschreiten seiner Schwelle in eine andere Dimension vor und bezöge seinen Wohnsitz im Innern eines Schwarzen Lochs.
    Über ihm treiben trübe Wolken an dem teerfleckigen Oberlicht vorbei, entschweben in den Abend über Manhattan. Unter sich hört er den Verkehr auf den Holland-Tunnel zubrausen: Ströme von Wagen, die am Abend vor Weihnachten ihrem Zuhause in New Jersey zustreben. Nebenan ist es ruhig. Die Pomponio-Brüder, die dort jeden Morgen hinkommen, um ihre Zigarren zu rauchen und Reklamebuchstaben aus Plastik zu fabrizieren – ein Geschäft, das sie durch tägliche Schichten von zwölf bis vierzehn Stunden am Laufen halten –, sind wahrscheinlich zu Hause und bereiten sich auf ein Festtagsessen vor. Gut so! In letzter Zeit hat einer von ihnen die Nächte in der Werkstatt verbracht, und sein Schnarchen hält A. unweigerlich wach. Der Mann schläft A. unmittelbar gegenüber, auf der anderen Seite der dünnen Wand, die ihre beiden Zimmer trennt, und Stunde um Stunde liegt A. im Bett, starrt in die Dunkelheit und versucht, seine Gedanken durch Ebbe und Flut der unruhigen, durch flatternde Polypen ausgestoßenen Träume dieses Mannes zu leiten. Das Schnarchen schwillt allmählich an, und auf dem Höhepunkt jedes Zyklus wird es ganz langgezogen, durchdringend, schier hysterisch, als müsste der Schnarcher mit Anbruch der Nacht

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