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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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losrasen, ohne dass es ihn weiter aufregte.
    Unergründlich. Und eben darum zuweilen fast heiter.

    Schon als junger Mann hatte er immer ein besonderes Interesse an seinem ältesten Neffen – dem einzigen Kind seiner einzigen Schwester. Meine Tante führte ein unglückliches Leben, durchsetzt mit einer Reihe schwieriger Ehen, und ihr Sohn bekam das voll zu spüren: abgeschoben auf Militärschulen, hatte er nie ein richtiges Zuhause. Von nichts anderem als Freundlichkeit und Pflichtbewusstsein bewegt, nehme ich an, nahm mein Vater den Jungen unter seine Fittiche. Er brachte ihn mit ständigen Ermunterungen voran und lehrte ihn, in der Welt zurechtzukommen. Später unterstützte er ihn bei seinen Geschäften, und wann immer sich ein Problem ergab, war er bereit, ihm zuzuhören und Ratschläge zu geben. Auch nachdem mein Vetter geheiratet hatte, nahm mein Vater weiterhin tätigen Anteil an ihm, beherbergte ihn und seine Familie über ein Jahr lang in seinem Haus, beschenkte seine vier Großneffen und Großnichten treu und brav zu ihren Geburtstagen und ging sie häufig zum Abendessen besuchen.
    Diesen Vetter hat der Tod meines Vaters mehr erschüttert als alle anderen Verwandten von mir. Bei dem Familientreffen nach der Beerdigung trat er drei- oder viermal an mich heran und sagte: «Neulich habe ich ihn ganz zufällig getroffen. Wir hatten uns für Freitagabend zum Essen verabredet.»
    Er benutzte jedes Mal genau die gleichen Worte. Als wüsste er gar nicht mehr, was er da sagte.
    Irgendwie kam es mir vor, als hätten wir die Rollen vertauscht, als wäre er der trauernde Sohn und ich der mitfühlende Neffe. Ich wollte ihm meinen Arm um die Schulter legen und ihm sagen, was für ein guter Mensch sein Vater gewesen sei. Schließlich war er der richtige Sohn, er war der Sohn, der zu sein ich mich nie hatte aufraffen können.

    Seit zwei Wochen gehen mir diese Zeilen von Maurice Blanchot nicht mehr aus dem Kopf: «Eins muss klar sein: Ich habe nichts Ungewöhnliches, nicht einmal etwas Überraschendes gesagt. Das Ungewöhnliche beginnt in dem Augenblick, da ich aufhöre. Aber ich bin nicht mehr fähig, davon zu sprechen.»
    Mit dem Tod anfangen. Mich ins Leben zurückarbeiten und am Ende zum Tod zurückkehren.
    Oder aber: der leere Wahn, irgendetwas über irgendjemanden sagen zu wollen.

    1972 hat er mich in Paris besucht. Es war das einzige Mal, dass er je nach Europa reiste.
    Ich bewohnte in jenem Jahr im sechsten Stock eines Hauses ein winziges Dienstmädchenzimmer, das kaum genug Platz für ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und eine Spüle hatte. Die Fenster und der kleine Balkon starrten einem der steinernen Engel von St. Germain Auxerrois ins Gesicht: zu meiner Linken der Louvre, weiter rechts Les Halles, Montmartre in weiter Ferne vor mir. Ich hatte dieses Zimmer sehr gern, und viele der Gedichte, die später in meinem ersten Buch erschienen, sind dort entstanden.
    Mein Vater hatte nicht vor, länger zu bleiben; ja, man konnte es kaum einen Urlaub nennen: vier Tage London, drei Tage Paris, und dann wieder nach Hause. Aber die Vorstellung, ihn zu sehen, gefiel mir, und ich schickte mich an, ihm einen schönen Aufenthalt zu bereiten.
    Zwei Dinge machten dies jedoch unmöglich. Erstens bekam ich eine Grippe; und zweitens musste ich am Tag nach seiner Ankunft nach Mexiko fliegen, wo ich einen Auftrag als Ghostwriter zu erledigen hatte.
    Ich wartete einen ganzen Vormittag im Foyer des Touristenhotels, wo er ein Zimmer gebucht hatte, schwitzte mit hohem Fieber vor mich hin und war fast ohnmächtig vor Schwäche. Als er zur verabredeten Zeit nicht auftauchte, blieb ich noch ein oder zwei Stunden, gab es aber schließlich auf und ging in mein Zimmer zurück, wo ich auf dem Bett zusammenbrach.
    Am späten Nachmittag kam er und riss mich durch lautes Klopfen an die Tür aus tiefem Schlaf. Die Begegnung hätte sich in einem Roman Dostojewskis abspielen können: bürgerlicher Vater besucht Sohn in einer fremden Stadt und findet den darbenden Poeten allein und fieberkrank in einer Dachstube. Der Anblick schockierte ihn, er war empört, dass jemand in solch einem Zimmer leben konnte, und das ließ ihn plötzlich aktiv werden: Er hieß mich meinen Mantel anziehen, zerrte mich in eine nahegelegene Klinik und kaufte anschließend die Pillen, die mir verschrieben wurden. Danach verbot er mir geradezu, die Nacht in meinem Zimmer zu verbringen. Mir war nicht nach Streiten zumute, also willigte ich ein, bei ihm im Hotel zu

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