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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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übernachten.
    Am nächsten Tag ging es mir nicht besser. Aber es war einiges zu erledigen, und ich raffte mich dazu auf. Am Morgen nahm ich meinen Vater zur Avenue Henri Martin in die riesige Wohnung des Filmproduzenten mit, in dessen Auftrag ich nach Mexiko sollte. Während des vorangegangenen Jahres hatte ich ab und zu für diesen Mann gearbeitet, mehr oder weniger Gelegenheitsjobs – Übersetzungen, Kurzfassungen von Drehbüchern – Sachen, die nur am Rande mit Kinofilmen zu tun hatten, die mich ohnehin nicht interessierten. Ein Projekt war idiotischer als das andere, aber die Bezahlung war gut, und ich hatte das Geld nötig. Jetzt sollte ich seiner mexikanischen Frau bei der Abfassung eines Buches helfen, für das sie einen Vertrag mit einem englischen Verlagshaus hatte: Quétzalcoatl und die Geheimnisse der gefiederten Schlange. Das schien mir ein bisschen zu weit zu gehen, und ich hatte den Auftrag bereits mehrmals abgelehnt. Aber mit jedem Nein von mir erhöhte er sein Angebot, bis es nun eine solche Höhe erreicht hatte, dass ich es nicht mehr ausschlagen konnte. Ich wäre nur einen Monat weg, und ich sollte das Geld in bar bekommen – im Voraus.
    Und Zeuge eben dieser Transaktion wurde mein Vater. Ausnahmsweise einmal sah ich ihn beeindruckt. Nicht nur, dass ich ihn in diese luxuriöse Umgebung geführt und einem Mann vorgestellt hatte, der mit Millionen jonglierte, sondern jetzt reichte mir dieser Mann auch noch gelassen einen Stapel Hundertdollarscheine über den Tisch und wünschte mir eine angenehme Reise. Natürlich war das Geld das Entscheidende; die Tatsache, dass mein Vater es mit eigenen Augen gesehen hatte. Ich empfand das als Triumph, als eine Art Rehabilitation. Zum ersten Mal war er gezwungen anzuerkennen, dass ich auf meine Weise für mich sorgen konnte.
    Er wurde sehr fürsorglich und nachsichtig wegen meines geschwächten Zustands. Half mir, das Geld bei der Bank einzuzahlen, lächelte und machte Witze. Besorgte uns dann ein Taxi und fuhr mit mir den weiten Weg zum Flughafen. Am Ende ein fester Händedruck. Viel Glück, mein Sohn. Mach sie fertig.
    Und ob.

    Mehrere Tage lang nichts …
    Ich habe versucht, mich gegenüber mir selbst herauszureden, doch sehe ich ziemlich klar. Je näher ich ans Ende dessen komme, was ich zu sagen vermag, desto mehr widerstrebt es mir, überhaupt noch etwas zu sagen. Ich möchte den Moment des Aufhörens hinausschieben und mir auf diese Weise vormachen, ich hätte eben erst angefangen, der bessere Teil meiner Geschichte käme erst noch. So sinnlos diese Worte erscheinen mögen, haben sie doch zwischen mir und meinem Schweigen gestanden, das mich noch immer mit Schrecken erfüllt. Wenn ich in dieses Schweigen trete, wird mein Vater für immer verschwunden sein.

    Der schmuddelige grüne Teppich in der Leichenhalle. Und der an Ekzemen und geschwollenen Knöcheln leidende Bestattungsunternehmer, wie er salbungsvoll und professionell eine Checkliste der Kosten durchging, als wollte ich mir eine Schlafzimmereinrichtung auf Pump kaufen. Er überreichte mir einen Umschlag, in dem sich der Ring befand, den mein Vater bei seinem Tod getragen hatte. Während er weiter vor sich hinleierte, tastete ich müßig an dem Ring herum, und plötzlich merkte ich, dass an der Unterseite des Steins noch Reste eines schmierigen Gleitmittels klebten. Ich brauchte ein paar Sekunden, um die Verbindung herzustellen, aber dann wurde es mir absurd klar: Man hatte die Lotion benutzt, um ihm den Ring vom Finger zu ziehen. Ich versuchte mir die Person vorzustellen, die mit solchen Aufgaben betraut wurde. Ich empfand weniger Entsetzen als vielmehr Faszination. Ich weiß noch, wie ich dachte: Ich bin in die Welt der Tatsachen eingetreten, in die Sphäre brutaler Einzelheiten. Der Ring war aus Gold, mit einer schwarzen Fassung, die die Insignien der Freimaurer trug. Mein Vater war seit über zwanzig Jahren kein aktives Mitglied mehr gewesen.
    Der Bestattungsunternehmer erzählte mir immer wieder, wie gut er meinen Vater «in den alten Zeiten» gekannt habe, und deutete damit eine Freundschaft und Vertrautheit an, die mit Sicherheit niemals existiert hat. Während ich ihm erklärte, welche Informationen er für den Nachruf an die Zeitungen weiterleiten sollte, griff er mir immer wieder hastig mit unkorrekten Bemerkungen vor, um zu beweisen, wie gut er mit meinem Vater bekannt gewesen sei. Jedes Mal unterbrach ich mich und korrigierte ihn. Als der Nachruf dann am nächsten Tag in der

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