Die Erfindung der Einsamkeit
ganz überflüssig zu sein, als könne nichts von dem, was er tat, ihn je auf irgendeine Weise berühren, gestattete ihm S. in seiner Verwundbarkeit und bitteren Not, ihm unentbehrlich zu werden. A. kaufte ihm zu essen, versorgte ihn mit Wein und Zigaretten, ließ ihn nicht verhungern – was durchaus hätte geschehen können. Denn so war S. beschaffen: Er bat nie um etwas. Er wartete, dass die Welt zu ihm käme; er hatte seine Erlösung dem Zufall überlassen. Früher oder später musste jemand auftauchen: seine Exfrau, einer seiner Söhne, ein Freund. Selbst dann trug er keine Bitten vor. Aber er schlug auch nichts aus.
Jedes Mal wenn A. ihm etwas zu essen brachte (meistens ein Brathähnchen aus einer Charcuterie an der Place d’Italie), wurde dies zum Anlass für ein simuliertes Festmahl, zu einem Vorwand zum Feiern. «Ah, Hähnchen», pflegte S. auszurufen und biss in einen Schenkel. Und während er dann weiter daran herumnagte und der Saft ihm in den Bart lief, noch einmal: «Ah, Hähnchen», und lachte dazu schelmisch und wie sich selbst missbilligend, als akzeptiere er durchaus den ironischen Gegensatz zwischen seinem Hunger und dem unbestreitbaren Vergnügen, welches das Essen ihm bereitete. Alles wurde absurd und leuchtend in diesem Lachen. Die Welt wurde umgestülpt, fortgeschwemmt und sogleich als eine Art metaphysischer Scherz wieder neu geboren. In dieser Welt war kein Platz für einen Mann, der keinen Sinn für seine Lächerlichkeit hatte.
Weitere Begegnungen mit S.: Briefe zwischen Paris und New York, Austausch einiger Fotos, all dies jetzt verlorengegangen. 1967: noch ein Besuch für mehrere Monate. Inzwischen hatte S. seine Priestergewänder abgelegt und benutzte auch wieder seinen richtigen Namen. Aber die Kostüme, die er bei seinen kleinen Ausflügen durch die Straßen seines Viertels trug, waren nicht minder phantastisch. Baskenmütze, Seidenhemd, Schal, schwere Cordhosen, lederne Reitstiefel, Spazierstock aus Ebenholz mit Silbergriff; eine Hollywood’sche Vision von Paris, circa 1920. Es war vielleicht kein Zufall, dass S.’ jüngerer Sohn Filmproduzent wurde.
Im Februar 1971 kehrte A. nach Paris zurück und blieb dort die nächsten dreieinhalb Jahre. Jetzt war er nicht mehr als Besucher da, das heißt, seine Zeit war stärker in Anspruch genommen; aber er sah S. noch immer ziemlich regelmäßig, etwa einmal im Monat. Das gemeinsame Band war noch da, doch im Lauf der Zeit begann A. sich zu fragen, ob nicht in Wirklichkeit nur die Erinnerung an jenes andere, sechs Jahre zuvor entstandene Band das gegenwärtige aufrechterhielt. Denn es stellt sich heraus, dass A., nachdem er (im Juli 1974) nach New York zurückgekehrt ist, keinen einzigen Brief mehr an S. geschrieben hat. Nicht dass er nicht mehr an ihn dachte. Aber stärker als das Bedürfnis, den Kontakt mit S. in der Zukunft fortzusetzen, war A.s Wunsch, sich mit der Erinnerung an ihn zu beschäftigen. Auf diese Weise begann er schier handgreiflich das Vergehen der Zeit zu spüren. Die Erinnerung genügte ihm. Und dies allein war schon eine erschreckende Entdeckung.
Noch erschreckender jedoch war, dass er, als er schließlich nach einer Abwesenheit von über fünf Jahren (im November 1979) nach Paris zurückkehrte, S. kein einziges Mal besuchte. Und dies, obwohl er durchaus die Absicht gehabt hatte. Während seines Aufenthalts erwachte er wochenlang jeden Morgen mit dem Gedanken: Heute muss ich mir die Zeit nehmen und S. besuchen, nur um im weiteren Verlauf des Tages jedes Mal einen Vorwand zu erfinden, eben dies zu unterlassen. Dieses Widerstreben, so wurde ihm allmählich klar, war ein Produkt der Angst. Aber Angst wovor? Davor, in seine eigene Vergangenheit zurückzugehen? Davor, eine Gegenwart zu entdecken, die der Vergangenheit widersprechen und sie damit verändern würde, was wiederum die Erinnerung an die Vergangenheit, die er bewahren wollte, zerstören würde? Nein, erkannte er, so einfach war das nicht. Aber was dann? Tage vergingen, und nach und nach sah er deutlicher. Er hatte Angst, dass S. tot sein könnte. Unsinnigerweise, das wusste er. Aber da A.s Vater vor weniger als einem Jahr gestorben war und da S. ihm gerade in Bezug auf seine Gedanken über seinen Vater wichtig geworden war, hatte er das Gefühl, der Tod des einen müsse irgendwie automatisch den des anderen nach sich ziehen. Was er sich auch einzureden versuchte, er glaubte tatsächlich daran. Im Übrigen dachte er: Wenn ich S. besuchen gehe, werde ich
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