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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Knaben, die den selbstbewussten, gebieterischen Blick des Vaters nachahmen soll. Nicht zu vergessen: dass Raleigh, als er nach dreizehn Jahren Kerkerhaft im Tower von London freigelassen wurde (1618) und, um seinen Namen zu läutern, zu jener unheilvollen Fahrt nach Guyana in See stach, von Wat begleitet wurde. Nicht zu vergessen, dass Wat sein Leben im Dschungel verlor, als er einen leichtsinnigen Angriff gegen die Spanier anführte. Raleigh an seine Frau: «Bis heute habe ich nie gewusst, was Kummer ist.» Und so fuhr er nach England zurück und erlaubte dem König, ihm den Kopf abzuschlagen.
    Gefolgt von weiteren Fotos, vielleicht einigen Dutzend: Mallarmés Sohn Anatole; Anne Frank («Dieses Foto zeigt mich so, wie ich gern immer aussehen möchte. Dann hätte ich bestimmt die Möglichkeit, nach Hollywood zu gehen. Aber jetzt sehe ich leider ganz anders aus.»); Mur; die Kinder von Kambodscha; die Kinder von Atlanta. Die toten Kinder. Die Kinder, die verschwinden werden, die Kinder, die tot sind. Himmler: «Ich habe beschlossen, jedes jüdische Kind vom Antlitz der Erde zu tilgen.» Nichts als Bilder. Da die Worte einen von einem bestimmten Punkt an zu dem Schluss bringen, dass das Sprechen nicht mehr möglich ist. Da diese Bilder das Unsagbare sind.

    Einen großen Teil seines Lebens als Erwachsener hat er damit verbracht, in Städten herumzuwandern, viele davon im Ausland. Einen großen Teil seines Lebens als Erwachsener hat er damit verbracht, gebückt über einem kleinen hölzernen Rechteck zu hocken und sich auf ein noch kleineres Rechteck aus weißem Papier zu konzentrieren. Einen großen Teil seines Lebens als Erwachsener hat er damit verbracht, aufzustehen und sich hinzusetzen und auf und ab zu gehen. Dies sind die Grenzen der bekannten Welt. Er horcht. Wenn er etwas hört, beginnt er aufs Neue zu horchen. Dann wartet er. Er beobachtet und wartet. Und wenn er etwas zu sehen beginnt, beobachtet und wartet er aufs Neue. Dies sind die Grenzen der bekannten Welt.

    Das Zimmer. Kurze Erwähnung des Zimmers und/oder der Gefahren, die darin lauern. Wie in dem Bild: Hölderlin in seinem Zimmer.
    Die Erinnerung an jene geheimnisvolle dreimonatige einsame Fußreise wiederbeleben: Durchquerung des Massif Central, die Finger fest um den Griff der Pistole in seiner Tasche geschlossen; jene Reise von Bordeaux nach Stuttgart (Hunderte von Meilen), die seinem ersten geistigen Zusammenbruch von 1802 vorausging.
    «Mein Teurer … Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehn, die Hirten des südlichen Frankreichs und einzelne Schönheiten, Männer und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind … Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, dass mich Apollo geschlagen.»
    «Totenbleich, ganz abgemagert, mit eingefallenen wilden Augen, langem Haar und Bart, gekleidet wie ein Bettler» erschien er in Stuttgart bei seinem Freund Matthisson und sagte nur ein einziges Wort: «Hölderlin».
    Sechs Monate später starb seine geliebte Susette. Um 1806 Ausbruch der Schizophrenie, und danach lebte er sechsunddreißig Jahre, sein halbes Leben lang, allein in dem Turm, den Zimmer, der Zimmermann aus Tübingen, ihm gebaut hatte – Zimmer , ein sprechender Name.
An Zimmern
Die Linien des Lebens sind verschieden,
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.
    Gegen Ende seines Lebens erwähnte ein Besucher in Hölderlins Turm Susettes Namen. Der Dichter erwiderte: «Ach, meine Diotima. Sprechen Sie mir nicht von meiner Diotima. Dreizehn Söhne hat sie mir geboren. Einer ist Papst, ein anderer ist Sultan, der dritte ist Kaiser von Russland …» Und dann: «Wissen Sie, was ihr zugestoßen ist? Sie ist verrückt geworden, ja, verrückt, verrückt, verrückt.»
    In jenen Jahren soll Hölderlin selten aus dem Haus gegangen sein. Wenn er doch einmal sein Zimmer verließ, dann nur für ziellose Spaziergänge durch die Landschaft, bei denen er seine Taschen mit Steinen füllte oder Blumen pflückte, die er später zerrupfte. In der Stadt wurde er von den Studenten ausgelacht, und wenn er sich Kindern näherte, um sie zu grüßen, liefen sie ängstlich vor ihm weg. Am

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