Die Erfindung der Einsamkeit
befand sich eine Reihe kleiner, in Fächer aufgeteilter Regale, die alles zu enthalten schienen, was er im Lauf eines Tages benötigte: Federhalter, Bleistifte, Tinte, Notenpapier, Zigarettenspitze, Radio, Taschenmesser, Weinflaschen, Brot, Bücher, Lupe. Zu seiner Rechten stand ein Metallgestell, auf dem ein Tablett befestigt war, das er bei Bedarf übers Bett schwenken konnte und je nachdem als Arbeits- oder Esstisch benutzte. Er führte ein Leben wie Crusoe: Schiffbruch im Herzen der Stadt. Denn S. hatte an alles gedacht. In seiner Armut war es ihm besser als manchem Millionär gelungen, für sich zu sorgen. Ungeachtet des äußeren Anscheins war er selbst noch in seiner Verschrobenheit Realist. Er hatte sich gründlich genug geprüft, um zu wissen, was zu seinem Überleben nötig war, und akzeptierte diese Marotten als die Bedingungen seines Lebens. Nichts an seiner Haltung war zaghaft oder gottergeben, nichts wies auf die Entsagung eines Einsiedlers hin. Er nahm seinen Zustand mit Leidenschaft und freudiger Begeisterung an, und wenn A. jetzt daran zurückdenkt, wird ihm klar, dass er nie jemanden gekannt hat, der so laut und so oft lachte.
Die gigantische Komposition, über der S. die letzten fünfzehn Jahre verbracht hatte, war noch längst nicht abgeschlossen. S. bezeichnete sie in bewusster Anspielung auf Joyce, den er sehr bewunderte, als sein «work in progress»; oder aber als Dodekalog , was so viel bedeuten sollte wie Arbeit-die-zu-tun-ist-und-getan-wird-während-man-sie-tut. Es ist unwahrscheinlich, dass er damit gerechnet hat, das Stück zu vollenden. Er schien die Unausweichlichkeit seines Scheiterns beinahe wie eine theologische Prämisse hinzunehmen, und was jemand anderen in hoffnungslose Verzweiflung gestürzt haben könnte, war für ihn eine Quelle grenzenloser, quichottischer Hoffnung. Irgendwann früher, vielleicht in seinem allerdunkelsten Augenblick, hatte er die Gleichung zwischen seinem Leben und seiner Arbeit aufgestellt, und jetzt konnte er zwischen den beiden nicht mehr unterscheiden. Jede Idee ging in seine Arbeit ein: Die Idee seiner Arbeit gab seinem Leben den Sinn. An etwas im Bereich des Möglichen zu denken – eine Arbeit, die hätte beendet werden und sich damit von ihm hätte lösen können –, würde das ganze Unternehmen verdorben haben. Es ging ihm darum zu scheitern, aber mit einem Vorhaben, das so ausgefallen war wie nur irgend möglich. Das Endergebnis war paradoxerweise Bescheidenheit, eine Methode, seine eigene Bedeutungslosigkeit im Vergleich zu Gott zu ermessen. Denn nur im Geist Gottes waren Träume wie der von S. realisierbar. Doch mit diesem seinem Traum hatte S. einen Weg gefunden, an all dem teilzuhaben, was über ihn hinausging, sich dem Herzen des Unendlichen ein kleines Stückchen zu nähern.
Über einen Monat lang hat A. in jenem Sommer 1965 S. zwei- oder dreimal wöchentlich besucht. Da er sonst niemanden in der Stadt kannte, war S. so etwas wie ein Anker für ihn geworden. Er konnte sich immer darauf verlassen, dass S. zu Hause war, ihn begeistert empfangen würde (auf russische Weise; drei Wangenküsse: links, rechts, links) und stets gern bereit war, mit ihm zu reden. Als er viele Jahre später eine Zeit schlimmer Verzweiflung durchmachte, erkannte er, was ihn immer wieder zu diesen Begegnungen mit S. hingezogen hatte: Dort hatte er zum ersten Mal erfahren dürfen, was für ein Gefühl es war, einen Vater zu haben.
Sein eigener Vater war eine ferne, fast abwesende Gestalt, ein Mensch, mit dem er nur sehr wenig gemeinsam hatte. S. wiederum hatte zwei erwachsene Söhne, die seinem Beispiel nicht gefolgt waren und der Welt gegenüber eine aggressive, verbissene Haltung eingenommen hatten. Von der natürlichen Harmonie zwischen ihnen abgesehen, wurden A. und S. von gleichartigen Bedürfnissen zueinander hingezogen: Der eine sehnte sich nach einem Sohn, der ihn akzeptierte, wie er war, der andere nach einem Vater, der ihn akzeptierte, wie er war. Einige Parallelen unterstrichen dies noch: S. war im selben Jahr geboren wie A.s Vater; A. war im selben Jahr geboren wie S.’ jüngerer Sohn. S. stillte A.s Sehnsucht nach einem Vater durch eine eigenartige Mischung von Großzügigkeit und Ansprüchen. Er hörte ihm ernsthaft zu und nahm seinen Ehrgeiz, Schriftsteller zu werden, als das Natürlichste hin, was ein junger Mann für sich erhoffen konnte. Während A.s Vater ihm mit seiner seltsamen, verschlossenen Art das Gefühl vermittelt hatte, in seinem Leben
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