Die Erfindung der Einsamkeit
erfahren, dass er tot ist; wenn ich nicht hingehe, wird er am Leben bleiben. A. glaubte also, durch sein Fernbleiben S. vor dem Sterben zu bewahren. Tag für Tag durchstreifte er Paris mit einem Bild von S. im Kopf. Hundertmal am Tag stellte er sich vor, das kleine Zimmer an der Place Pinel zu betreten. Dennoch brachte er es nicht über sich, dorthin zu gehen. Und da erkannte er, dass er unter einem sehr starken Zwang lebte.
Noch ein Kommentar über die Natur des Zufalls.
Von seinem letzten Besuch bei S. in jenen Pariser Jahren (1974) hat sich ein Foto erhalten. A. und S. stehen draußen vor der Eingangstür von S.’ Haus. Sie haben einander die Arme um die Schultern gelegt, und aus ihren Gesichtern leuchten unverkennbar Freundschaft und Kameradschaft. Dies Bild ist eins der wenigen persönlichen Andenken, die A. in sein Zimmer in der Varick Street mitgenommen hat.
Als er das Bild jetzt (Heiligabend 1979) betrachtet, wird er an ein anderes Bild erinnert, das er an einer Wand in S.’ Zimmer gesehen hat: S. als junger Mann, etwa achtzehn oder neunzehn, zusammen mit einem Jungen von zwölf oder dreizehn. Die gleiche Ausstrahlung von Freundschaft, das gleiche Lächeln, die gleiche Arme-um-die-Schultern-Haltung. Der Junge, so hatte S. ihm erzählt, war der Sohn von Marina Zwetajewa. Marina Zwetajewa, die für A. neben Mandelstam zu den größten russischen Dichtern zählt. Dieses Foto von 1974 betrachten heißt für ihn, sich ihr unerträgliches Leben auszumalen, das 1941 mit ihrem Selbstmord durch Erhängen endete. Zwischen dem Bürgerkrieg und ihrem Tod hatte sie viele Jahre lang in den Kreisen der russischen Emigranten in Frankreich gelebt, in derselben Gesellschaft, in der S. aufgewachsen war, und er hatte sie gekannt und war mit ihrem Sohn Mur befreundet gewesen. Marina Zwetajewa, die geschrieben hatte: «Vielleicht ist es besser / Zeit und die Welt zu erobern / indem man geht, und keine Spur hinterlässt – / indem man geht, und nicht einmal einen Schatten / an den Mauern zurücklässt …»; die geschrieben hatte: «Das habe ich nicht gewollt / das nicht (nur still zuhören / das Sein der Körper ist Wollen / und jetzt sind wir nurmehr Geister) …»; die geschrieben hatte: «In dieser christlichsten aller Welten / sind alle Dichter Juden.»
Als A. und seine Frau 1974 nach New York zurückkamen, bezogen sie eine Wohnung am Riverside Drive. Zu ihren Nachbarn in diesem Haus zählte ein alter russischer Arzt, Gregory Altschuller, ein Mann weit über achtzig, der in einem der städtischen Krankenhäuser noch immer Forschungsarbeiten betrieb und sich, ebenso wie seine Frau, sehr für Literatur interessierte. Dr. Altschullers Vater war Tolstois Leibarzt gewesen, und auf einem Tisch in der Wohnung am Riverside Drive stand ein riesiges Foto des bärtigen Schriftstellers, das, mit gleichermaßen riesiger Handschrift, seinem Freund und Arzt gewidmet war. Aus Gesprächen mit dem jüngeren Dr. Altschuller erfuhr A. etwas, was ihm außerordentlich seltsam vorkam. Dieser Mann hatte im Winter 1925 in einem kleinen Dorf außerhalb von Prag Marina Zwetajewas Sohn zur Welt bringen helfen: eben den Sohn, der zu dem Jungen auf dem Foto in S.’ Zimmer herangewachsen war. Mehr noch: Es war das einzige Baby, das er in seiner Laufbahn als Arzt auf die Welt geholt hatte.
«Es war am Abend», schrieb Dr. Altschuller kürzlich, «des letzten Januartages 1925 … Es herrschte ein schrecklicher Schneesturm, der alles zuschneite. Da kam ein tschechischer Junge aus dem Dorf zu mir gelaufen, in dem die Zwetajewa jetzt mit ihrer Familie lebte – ihr Mann weilte damals allerdings außerhalb und hatte auch die Tochter mitgenommen. Marina war allein.
Der Junge stürzte ins Zimmer und sagte: ‹Pani Zwetajewa möchte, dass Sie sofort zu ihr kommen, weil die Wehen schon angefangen haben! Sie müssen sich beeilen, es ist schon unterwegs.› Was hätte ich erwidern können? Rasch kleidete ich mich an und ging im wütenden Sturm durch den Wald, knietief lag der Schnee. Ich öffnete die Tür und trat ein. Im bleichen Licht einer einsamen Glühbirne erblickte ich in einer Ecke des Zimmers Bücherstapel; sie reichten fast bis an die Decke. Tagelang angesammelter Unrat war in eine andere Ecke des Zimmers geschaufelt. Und Marina lag kettenrauchend auf dem Bett, das Baby bereits unterwegs. Begrüßte mich unbekümmert: ‹Sie kommen fast zu spät!› Ich sah mich nach etwas Sauberem um, nach einem Stück Seife. Nichts, kein
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