Die Erfindung der Einsamkeit
anders, er musste durch die Haut ihres Gesichts sehen und sich den anonymen Schädel dahinter vorstellen. Und je reizender das Gesicht, desto heftiger sein Streben, die darin vorgeprägten Zeichen der Zukunft zu suchen: die ersten Falten, das herabhängende Kinn, den von Enttäuschungen verschleierten Blick. Er projizierte die Gesichter übereinander: diese Frau mit vierzig; diese mit sechzig; diese mit achtzig; als würde er sich bereits in der Gegenwart gezwungen fühlen, der Zukunft nachzujagen, den uns allen innewohnenden Tod aufzustöbern.
Einige Zeit später stieß er in einem von Flauberts Briefen an Louise Colet (August 1846) auf einen ähnlichen Gedanken, und er war sehr angetan von dieser Parallele: «… Ich nehme ständig die Zukunft wahr, von allem habe ich stets die Antithese vor Augen. Nie habe ich ein Kind gesehen, ohne zu denken, dass es alt werden würde, und bei jeder Wiege muss ich ans Grab denken. Sehe ich eine nackte Frau, muss ich mir ihr Skelett vorstellen.»
Durch den Krankenhausflur gehen und den Mann, dem ein Bein amputiert wurde, aus voller Kehle schreien hören: Es tut weh, es tut weh. Über einen Monat lang täglich durch die Stadt zur Klinik fahren, die unerträgliche Hitze in jenem Sommer (1979). Seinem Großvater helfen, die falschen Zähne einzusetzen. Den alten Mann mit einem Elektrorasierer rasieren. Ihm die Baseballergebnisse aus der New York Post vorlesen.
Erste Erwähnung dieser Themen. Fortsetzungen folgen.
Zweiter Kommentar über die Natur des Zufalls.
Er erinnert sich, wie er an einem vernieselten Tag im April 1962 mit seinem Freund D. die Schule schwänzte und die Polo Grounds besuchte, um sich eins der ersten Spiele anzusehen, das die New York Mets je gespielt haben. Das Stadion war nahezu leer (acht- oder neuntausend Zuschauer), und die Mets erlitten gegen die Pittsburgh Pirates eine deutliche Niederlage. Die beiden Freunde saßen neben einem Jungen aus Harlem, und A. erinnert sich an die angenehm lockere Unterhaltung der drei während des Spiels.
In jener Saison ging er nur noch einmal zu den Polo Grounds, und zwar zu einem Feiertagsspiel (Memorial Day: Tag der Erinnerung, Tag der Toten) gegen die Dodgers, Hin- und Rückspiel an einem Nachmittag: über fünfzigtausend Leute auf den Tribünen, strahlender Sonnenschein, und auf dem Feld die verrücktesten Ereignisse: ein Triple Play, Home Runs, die innerhalb des Stadions landeten, Steals über zwei Male. Er war wieder mit demselben Freund da, und sie saßen in einem abgelegenen Winkel des Stadions, auf längst nicht so guten Plätzen, wie sie sie bei ihrem ersten Besuch hatten ergattern können. Einmal standen sie auf und gingen zu einem Hot-Dog-Stand, und dort, nur ein kleines Stück die Betonstufen runter, saß, diesmal neben seiner Mutter, eben der Junge, den sie im April kennengelernt hatten. Sie erkannten einander wieder und begrüßten sich herzlich, alle erstaunt über diesen Zufall. Wohlverstanden: Die Chancen für ein solches Wiedersehen waren ungeheuer klein. Denn wie die beiden Freunde A. und D. hatte der Junge, der jetzt neben seiner Mutter saß, seit jenem feuchten Tag im April kein anderes Spiel mehr besucht.
Erinnerung als ein Zimmer, als ein Körper, als ein Schädel, als ein Schädel, der das Zimmer umschließt, in dem der Körper sitzt. Wie in dem Bild: «Ein Mann saß allein in seinem Zimmer.»
«Die Kraft des Gedächtnisses ist wunderbar», bemerkte der heilige Augustinus: «Es ist ein gewaltiges, unermessliches Heiligtum. Wer kann seine Tiefen ermessen? Und doch ist es eine Fähigkeit meiner Seele. Gewiss ist es ein Teil meines Wesens, doch vermag ich mich nicht zur Gänze zu verstehen. Somit ist also der Verstand zu enge, sich selbst vollständig zu enthalten. Wo aber befindet sich jener Teil von ihm, den er nicht in sich selbst umschließt? Ist er irgendwo außerhalb seiner selbst und nicht in sich selbst? Wie kann er dann ein Teil davon sein, wenn er nicht darin enthalten ist?»
Das Buch der Erinnerung. Buch drei.
1965 in Paris hat er zum ersten Mal die unendlichen Möglichkeiten eines begrenzten Raumes erfahren. Eine zufällige Begegnung mit einem Fremden in einem Café führte zu seiner Bekanntschaft mit S.A. war damals gerade achtzehn, es war der Sommer zwischen Highschool und College, und es war sein erster Aufenthalt in Paris. Es folgen seine frühesten Erinnerungen an diese Stadt, in der er so große Teile seines Lebens verbringen sollte; sie sind untrennbar mit der Vorstellung
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