Die Erfindung der Einsamkeit
eines Zimmers verbunden.
Die Gegend um die Place Pinel im 13. Arrondissement, wo S. lebte, war ein Arbeiterviertel und schon damals einer der letzten Reste des alten Paris – des Paris, von dem man noch heute redet, das aber gar nicht mehr existiert. S. bewohnte ein Zimmer, so klein, dass es sich gegen Besucher zu sperren schien. Bereits bei Anwesenheit einer Person war es überfüllt, zwei Leute erstickten es. Man konnte sich nicht darin bewegen, ohne sich so klein wie möglich zu machen, ohne seinen Geist auf einen unendlich kleinen Punkt in sich selbst einschrumpfen zu lassen. Erst dann war man fähig zu atmen, zu spüren, wie das Zimmer weiter wurde, zu beobachten, wie der Geist die unergründlichen Weiten dieses Raums zu erforschen begann. Denn dieses Zimmer umschloss ein ganzes Universum, einen Miniaturkosmos, in dem alles Unermessliche, alles Himmelweite, alles Unfassbare enthalten war. Es war ein Schrein, kaum größer als ein Leib, zum Lob all dessen, was außerhalb des Körpers existiert: die Darstellung der Innenwelt eines Menschen bis ins kleinste Detail. S. war es buchstäblich gelungen, sich mit den Dingen zu umgeben, die in ihm waren. Sein Zimmer war ein Traumraum, und die Wände glichen der Haut eines zweiten Körpers, als hätte er diesen Körper in einen Geist verwandelt, in ein lebendiges Werkzeug aus reinen Gedanken. Dies war der Schoß, der Bauch des Wals, der ursprüngliche Sitz der Phantasie. S. hatte sich in diesem Dunkel eingerichtet und so eine Möglichkeit erfunden, offenen Auges zu träumen.
Als ehemaligen Schüler von Vincent D’Indy hatte man S. früher als sehr vielversprechenden jungen Komponisten betrachtet. Seit über zwanzig Jahren jedoch war kein einziges seiner Stücke öffentlich aufgeführt worden. Naiv in jeder Hinsicht, besonders aber in politischen Dingen, hatte er den Fehler begangen, während des Kriegs zwei seiner größeren Orchesterwerke in Paris zur Aufführung kommen zu lassen – die Symphonie de Feu und die Hommage à Jules Verne , wofür jeweils über einhundertdreißig Musiker benötigt wurden. Das war 1943, mitten in der Zeit der Besetzung durch die Nazis. Nach Kriegsende bezichtigte man ihn insgeheim der Kollaboration, und obwohl nichts von der Wahrheit weiter entfernt sein konnte als dies, wurde er – durch stillschweigendes Einvernehmen, nie durch unmittelbare Konfrontation – von der französischen Musikwelt ausgeschlossen. Das einzige Zeichen dafür, dass einer seiner Kollegen noch an ihn dachte, war eine jährliche Weihnachtskarte von Nadia Boulanger.
Ihm, dem Stotterer, dem Kind-Mann mit einer Schwäche für Rotwein, mangelte es so sehr an Arglist, an Wissen um die Boshaftigkeit der Welt, dass er überhaupt keine Chance hatte, sich gegen seine anonymen Ankläger zu verteidigen. Er zog sich einfach zurück, versteckte sich hinter der Maske des Exzentrikers. Er ernannte sich zu einem orthodoxen Priester (er war Russe), ließ sich einen langen Bart wachsen, kleidete sich in einen schwarzen Talar und änderte seinen Namen in Abbaye de la Tour du Calame, setzte dabei aber – schubweise, unterbrochen von apathischen Phasen – die Arbeit an seinem Lebenswerk stets fort: ein Stück für drei Orchester und vier Chöre, dessen Aufführung sich über zwölf Tage erstreckt hätte. Bei all seinem Elend, seinen vollkommen erbärmlichen Lebensbedingungen, wandte er sich hilflos stotternd und mit schimmernden grauen Augen an A. und sagte: «Alles ist wunderbar. Keine Zeit war je so schön wie diese.»
Die Sonne drang nicht in sein Zimmer an der Place Pinel. Er hatte das Fenster mit schwerem schwarzem Stoff verhängt, und das bisschen Licht im Zimmer kam von ein paar strategisch platzierten, schwach leuchtenden Lampen. Der Raum war kaum größer als ein Zweiter-Klasse-Abteil, und er hatte auch ungefähr die gleiche Form: schmal, mit hoher Decke und einem einzigen Fenster am hinteren Ende. Diesen winzigen Raum hatte S. mit einer Unmenge von Gegenständen, mit den Bruchstücken eines ganzen Lebens vollgestopft: Bücher, Fotos, Manuskripte, private Totems – alles, was irgendwie von Bedeutung für ihn war. Regale, dicht bepackt mit dieser Sammlung, ragten an allen Wänden bis zur Decke, standen leicht nach vorn geneigt, so dass es aussah, als könnte die leiseste Erschütterung das Ganze zum Einsturz bringen und über ihm zusammenkrachen lassen. S. lebte, arbeitete, aß und schlief in seinem Bett. Unmittelbar links von ihm, sauber in die Wand eingepasst,
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