Die Erfindung der Einsamkeit
sauberes Taschentuch, kein sauberes Garnichts. Sie lag rauchend auf dem Bett und sagte lächelnd: ‹Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie würden mein Kind zur Welt bringen. Jetzt sind Sie da – und jetzt ist es Ihre Sache, nicht meine …›
Alles ging ziemlich glatt. Nur hatte sich dem Kind die Nabelschnur so fest um den Hals gewickelt, dass es kaum Luft bekam. Es war blau angelaufen …
Ich mühte mich verzweifelt, das Kind zum Atmen zu bringen, und endlich hatte ich Erfolg: Die blaue Haut wurde rosa. Während dieser ganzen Zeit lag Marina rauchend und vollkommen still im Bett und sah unverwandt mich und das Baby an …
Am nächsten Tag kam ich wieder, und dann sah ich das Kind viele Wochen lang jeden Sonntag. In einem Brief (vom 10. Mai 1925) schrieb Marina: ‹Altschuller regelt alles, was mit Mur zu tun hat, voller Stolz und Liebe. Vor dem Essen bekommt Mur einen Teelöffel Zitronensaft ohne Zucker. Er wird nach der Methode von Professor Czerny gefüttert, mit der in Deutschland während des Krieges Tausende von neugeborenen Kindern gerettet wurden. Altschuller sieht Mur jeden Sonntag. Perkussion, Auskultation, irgendwelche Berechnungen. Dann schreibt er mir auf, wie ich Mur in der nächsten Woche füttern soll, was ich ihm geben soll, wie viel Butter, wie viel Zitrone, wie viel Milch, wie die Menge allmählich zu steigern ist. Jedes Mal wenn er kommt, weiß er noch genau, was er letztes Mal vorgeschrieben hat, dabei hat er keinerlei Notizen bei sich … Manchmal habe ich das verrückte Verlangen, einfach seine Hand zu nehmen und sie zu küssen …›
Der Junge wuchs rasch zu einem gesunden Kind heran, das von seiner Mutter und deren Freunden angehimmelt wurde. Als ich ihn zum letzten Mal sah, war er knapp ein Jahr alt. Marina zog nach Frankreich, wo sie die nächsten vierzehn Jahre lebte. Georgi (Murs offizieller Name) ging zur Schule, und bald beschäftigte er sich leidenschaftlich mit Literatur, Musik und Kunst. 1936 verließ seine Schwester Alia, damals Anfang zwanzig, die Familie und Frankreich, um ihrem Vater nach Sowjetrussland zu folgen. Marina blieb allein mit ihrem noch so jungen Sohn in Frankreich zurück …, wo sie, finanziell und moralisch, in äußerster Bedrängnis leben musste. 1939 beantragte sie ein sowjetisches Visum und kehrte mit ihrem Sohn nach Moskau zurück. Zwei Jahre später, im August 1941, nahm ihr Leben ein tragisches Ende …
Der Krieg war noch im Gange. Der junge Georgi Efron musste an die Front. ‹Lebt wohl, Literatur, Musik und Schule›, schrieb er an seine Schwester. Er unterschrieb den Brief mit ‹Mur›. Als Soldat war er ein mutiger und furchtloser Kämpfer, nahm an vielen Gefechten teil und starb im Juli 1944 als eins von Hunderten von Opfern einer Schlacht in der Nähe der Ortschaft Druika an der Westfront. Er war gerade zwanzig Jahre alt.»
Das Buch der Erinnerung. Buch vier.
Einige leere Seiten. Gefolgt von üppigen Illustrationen. Alte Familienfotos, die Familien eines jeden Einzelnen, so viele Generationen zurückreichend wie möglich. Sich diese mit äußerster Sorgfalt ansehen.
Anschließend mehrere Reihen von Reproduktionen, beginnend mit den Porträts, die Rembrandt von seinem Sohn Titus gemalt hat, und zwar vollständig: vom Bildnis des kleinen Jungen (1650: goldenes Haar, roter Federhut) über das Porträt von Titus «über den Schularbeiten» (1655: nachdenklich am Schreibtisch, in seiner linken Hand baumelt ein Kompass, sein rechter Daumen ist ans Kinn gedrückt) und das Bild des siebzehnjährigen Titus (1658: der eigenartige rote Hut; und, wie ein Kommentator dazu geschrieben hat: «Der Künstler hat seinen Sohn mit dem gleichen Scharfblick gemalt, den er gewöhnlich für seine Selbstbildnisse reservierte») bis hin zu dem letzten erhaltenen Gemälde von Titus aus den frühen sechziger Jahren: «Das Gesicht wirkt wie das eines alten, von Krankheit zerstörten Mannes. Natürlich betrachten wir es aus heutiger Sicht – wir wissen ja, dass Titus noch vor seinem Vater sterben wird …»
Gefolgt von dem Porträt von Sir Walter Raleigh und seinem achtjährigen Sohn Wat (1602, Künstler unbekannt), das in der Londoner National Portrait Gallery hängt. Zu beachten: die unheimliche Ähnlichkeit ihrer Körperhaltung. Vater und Sohn blicken nach vorn, die linke Hand auf den Hüften, den rechten Fuß im Winkel von fünfundvierzig Grad nach außen gestellt, den linken genau geradeaus gerichtet, und die finstere Entschlossenheit auf dem Antlitz des
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