Die Erfindung der Einsamkeit
äußerster Dunkelheit: Notizen zu einem Gedicht, das nie geschrieben werden sollte. Entdeckt wurden sie erst Ende der fünfziger Jahre. 1974 hatte A. von dreißig oder vierzig dieser Stücke Rohübersetzungen angefertigt und das Manuskript dann weggelegt. Als er (im Dezember 1979, genau einhundert Jahre nachdem Mallarmé diese Todesnotizen für seinen Sohn hingekritzelt hatte) aus Paris in sein Zimmer an der Varick Street zurückkehrte, suchte er den Aktenordner mit den handschriftlichen Entwürfen hervor und machte sich an die Ausarbeitung endgültiger Versionen seiner Übertragungen. Diese wurden später in der Paris Review veröffentlicht, zusammen mit einem Foto, das Anatole im Matrosenanzug zeigt. Aus seinen Vorbemerkungen: «Am 6. Oktober 1879 starb nach langer Krankheit Mallarmés einziger Sohn, Anatole. Die Krankheit, laut Diagnose ein Kinderrheumatismus, hatte sich allmählich über alle Gliedmaßen ausgebreitet und am Ende den ganzen Körper des Kindes ergriffen. Mehrere Monate lang hatten Mallarmé und seine Frau hilflos neben Anatoles Bett gesessen, während die Ärzte verschiedene Medikamente und erfolglose Behandlungsmethoden ausprobierten. Der Junge wurde von der Stadt aufs Land und wieder zurück in die Stadt gebracht. Am 22. August schrieb Mallarmé seinem Freund Henry Ronjon ‹von dem Kampf zwischen Leben und Tod, den unser armer kleiner Liebling durchmacht … Aber der wahre Schmerz besteht darin, dass dieses kleine Wesen verschwinden könnte. Ich gestehe, das ist zu viel für mich; ich kann dieser Vorstellung nicht ins Auge sehen.›»
Genau diese Vorstellung, so erkannte A., hatte ihn bewegt, sich diesen Texten aufs neue zuzuwenden. Sie zu übersetzen war für ihn keine literarische Übung, sondern eine Möglichkeit, seine eigene Panik in der Arztpraxis in jenem Sommer noch einmal zu durchleben: Das ist zu viel für mich, ich kann dem nicht ins Auge sehen. Denn wie ihm später klar wurde, war es ihm erst in diesem einen Augenblick gelungen, endlich das ganze Ausmaß seiner eigenen Vaterschaft zu begreifen: Das Leben des Jungen bedeutete ihm mehr als sein eigenes; wenn er, um seinen Sohn zu retten, sterben müsste, wäre er dazu bereit. Und daher war er in jenem Augenblick der Angst ein für allemal zum Vater seines Sohnes geworden. Das Übersetzen dieser etwa vierzig Fragmente von Mallarmé mochte an sich belanglos sein, doch für ihn selbst war es so etwas wie ein Dankgebet für das Leben seines Sohnes. Ein Gebet an was oder wen? An nichts, vielleicht. An seine Auffassung vom Leben. An das moderne Nichts .
Kurzer Kommentar zu dem Wort «Ausstrahlung».
Zum ersten Mal hörte er dieses Wort in Zusammenhang mit seinem Sohn, als er seinem guten Freund R., einem amerikanischen Dichter, der acht Jahre lang in Amsterdam gelebt hatte, ein Foto des Jungen zeigte. Sie tranken an diesem Abend in einer Bar, bedrängt von Leibern und lauter Musik. A. zog den Schnappschuss aus seiner Brieftasche und gab ihn R., der das Bild eine ganze Weile betrachtete. Dann wandte er sich, ein wenig betrunken, an A. und sagte sehr bewegt: «Er hat die gleiche Ausstrahlung wie Titus.»
Etwa ein Jahr später, kurz nach dem Erscheinen von «A Tomb for Anatole» in der Paris Review , war A. bei R. zu Besuch. R. (der A.s Sohn inzwischen sehr liebgewonnen hatte) erklärte A.: «Heute habe ich etwas ganz Außerordentliches erlebt. Ich war in einem Buchladen und blätterte in verschiedenen Zeitschriften herum, und dabei stieß ich in der Paris Review zufällig auf ein Foto von Mallarmés Sohn. Eine Sekunde lang glaubte ich, es sei dein Junge. Die Ähnlichkeit war verblüffend.»
A. erwiderte: «Aber das waren meine Übersetzungen. Ich habe sie dazu gebracht, dieses Bild da reinzunehmen. Hast du das nicht gewusst?»
Darauf R.: «So weit bin ich nicht gekommen. Das Bild hat mich so beeindruckt, dass ich die Zeitschrift zumachen musste. Ich habe sie ins Regal zurückgelegt und bin dann aus dem Laden gegangen.»
Sein Großvater hielt noch zwei oder drei Wochen durch. Nachdem sein Sohn außer Gefahr war und seine Ehe sich völlig festgefahren hatte, kehrte A. in die Wohnung mit dem Blick auf den Columbus Circle zurück. Diese Tage waren für ihn wohl die schlimmsten überhaupt. Er konnte nicht arbeiten, er konnte nicht denken. Er begann sich zu vernachlässigen, aß nur noch ungesundes Zeug (tiefgekühlte Fertigmahlzeiten, Pizza, Nudeln aus dem chinesischen Imbiss) und überließ die Wohnung sich selbst: schmutzige Kleider
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