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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Vergehen, dies Loslassen des Lebens mitten im Leben ließ ihn am Ende erkennen, was er schon immer gewusst hatte.

    Fast täglich kam ein Anruf von der ehemaligen Sekretärin seines Großvaters, einer Frau, die über zwanzig Jahre in seinem Büro gearbeitet hatte. Nach dem Tod seiner Großmutter war sie zur festen Begleiterin seines Großvaters avanciert, zu einer geachteten Frau, mit der er sich bei offiziellen Anlässen – Familientreffen, Hochzeiten, Beerdigungen – in der Öffentlichkeit zeigte. Bei jedem ihrer Anrufe erkundigte sie sich zunächst umständlich nach der Gesundheit seines Großvaters und bat ihn dann, für sie einen Besuch im Krankenhaus zu vereinbaren. Das Problem dabei war ihr eigener schlechter Gesundheitszustand. Obwohl nicht sehr alt (höchstens Ende Sechzig), litt sie an der Parkinson’schen Krankheit und lebte bereits seit einiger Zeit in einem Pflegeheim in der Bronx. Nach zahlreichen Gesprächen (ihre Stimme so matt im Hörer, dass A. seine ganze Konzentration aufbieten musste, um auch nur die Hälfte von dem zu verstehen, was sie sagte) willigte er schließlich ein, sich vor dem Metropolitan Museum mit ihr zu treffen, wo einmal wöchentlich ein Bus des Pflegeheims ambulante Patienten für einen Nachmittag in Manhattan abzusetzen pflegte. An dem verabredeten Tag regnete es zum ersten Mal seit fast einem Monat. A. kam schon etwas früher und stand dann über eine Stunde lang auf der Treppe des Museums, schützte seinen Kopf mit einer Zeitung vor dem Regen und hielt nach der Frau Ausschau. Endlich beschloss er, das Warten aufzugeben, und machte noch einen letzten Rundgang durch die Gegend. Und da fand er sie: Einen oder zwei Blocks weiter die Fifth Avenue hinauf stand sie, als suche sie dort Schutz vor dem Regen, unter einem erbärmlich schmächtigen Bäumchen: eine durchsichtige Plastikhaube auf dem Kopf, mit vorgekrümmtem Körper auf ihren Spazierstock gestützt, ganz steif, vor dem kleinsten Schritt bangend, auf den nassen Bürgersteig starrend. Wieder diese matte Stimme, und A. musste schier sein Ohr an ihren Mund pressen, um sie zu verstehen – nur um belanglose, fade Mitteilungen aufzuschnappen wie die, dass der Busfahrer nicht rasiert gewesen sei, dass heute die Zeitung nicht gekommen sei. Diese Frau hatte A. schon immer gelangweilt, und selbst als sie noch gesund war, hatte es ihn angewidert, wenn er mehr als fünf Minuten in ihrer Gesellschaft verbringen musste. Jetzt war er geradezu wütend auf sie und ärgerte sich darüber, wie sie Mitleid von ihm zu heischen schien. Im Geiste beschimpfte er sie heftig wegen ihres schäbigen Eigennutzes.
    Er brauchte über zwanzig Minuten, um ein Taxi anzuhalten. Und dann die endlose Qual, sie zum Bordstein zu führen und in den Wagen zu verfrachten. Das Scharren ihrer Schuhe auf dem Pflaster: zwei Zentimeter, und dann erst mal eine Pause; noch zwei Zentimeter, und wieder eine Pause; noch zwei Zentimeter, und nochmals zwei. Er hielt ihren Arm und tat sein Bestes, sie voranzubringen. Als sie am Krankenhaus ankamen und es ihm endlich gelungen war, sie vom Rücksitz des Taxis ins Freie zu befördern, traten sie die langsame Reise zum Eingang an. Unmittelbar vor der Tür, genau in dem Augenblick, als A. glaubte, sie würden es tatsächlich schaffen, blieb sie wie angewurzelt stehen. Mit einem Mal hatte sie die Angst gepackt, sie könne sich nicht mehr bewegen, und daher konnte sie es denn auch nicht mehr. Ganz gleich, was A. zu ihr sagte, ganz gleich, wie sachte er sie voranzulocken versuchte, sie rührte sich nicht vom Fleck. Leute gingen aus und ein – Ärzte, Schwestern, Besucher –, und da standen sie, A. und die hilflose Frau, steckengeblieben mitten im Hin und Her der anderen. A. bat sie zu warten (als ob ihr etwas anderes übriggeblieben wäre) und ging in den Vorraum, wo er einen freien Rollstuhl entdeckte, den er unter den argwöhnischen Blicken einer Verwaltungsbeamtin nach draußen schob. Dann half er seiner hilflosen Begleiterin vorsichtig in den Stuhl und bugsierte sie hastig durch den Vorraum zum Aufzug, dabei die Rufe der Aufseherin ignorierend: «Ist sie eine Patientin? Ist diese Frau eine Patientin? Rollstühle sind nur für Patienten!»
    Als er sie in das Zimmer seines Großvaters schob, döste der alte Mann gerade vor sich hin; weder schlafend noch wachend, trieb er schlaff und wie betäubt am Rande des Bewusstseins dahin. Beim Geräusch ihres Eintretens belebte er sich so weit, dass er sie wahrnehmen konnte, und als

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