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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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immer bewundert: die blitzschnellen Singles nach rechts, seine ruckenden Bewegungen um die Bases, die Wut, die ihn zu verzehren schien, wenn er hinter dem Schlagmal zugange war. Nun erfuhr A. gerührt von Munsons Arbeit mit Kindern und den Schwierigkeiten, die er mit seinem hyperaktiven Sohn gehabt hatte. Alles schien sich zu wiederholen. Die Wirklichkeit war eine chinesische Schachtel, eine unendliche Reihe von ineinandergeschachtelten Behältern. Denn auch hier, an einer ganz unwahrscheinlichen Stelle, war das Thema wieder aufgetaucht: der Fluch des abwesenden Vaters. Offenbar war Munson der Einzige, der den kleinen Jungen zu beruhigen vermochte. Sobald er zu Hause war, hörten die Ausbrüche des Jungen auf, ließen seine Anfälle nach. Munson machte den Flugschein, um während der Baseballsaison öfter zu seinem Sohn nach Hause kommen zu können, und im Flugzeug kam er ums Leben.

    A.s Baseballerinnerungen waren zwangsläufig mit denen an seinen Großvater verknüpft. Sein Großvater hatte ihn zu seinem ersten Spiel mitgenommen, hatte ihm von den alten Spielern erzählt, hatte ihm gezeigt, dass Baseball ebenso viel mit Reden wie mit Zusehen zu tun hat. Als kleiner Junge wurde A. oft in dem Büro an der Fifty-seventh Street abgesetzt, wo er an den Schreib- und Addiermaschinen herumspielte, bis sein Großvater mit der Arbeit fertig war und ihn zu einem gemächlichen Broadway-Bummel mitnahm. Zu dem Ritual gehörten jedes Mal ein paar Runden Pokerino in einer der Spielhallen, ein kurzes Mittagessen und anschließend eine Fahrt mit der U-Bahn – zu einem der Baseballstadien. Selbst jetzt noch, während sein Großvater aus dem Leben schwand, setzten sie ihre Gespräche über Baseball fort. Es war das einzige Thema, bei dem sie einander noch immer ebenbürtig waren. Zu jedem seiner Besuche im Krankenhaus brachte A. die neueste Ausgabe der New York Post mit, und dann saß er neben dem Bett des alten Mannes und las ihm die Berichte über die Spiele vom Vortag vor. Es war sein letzter Kontakt zur Außenwelt, und der war schmerzlos, eine Reihe kodierter Botschaften, die er mit geschlossenen Augen verstehen konnte. Alles andere wäre zu viel gewesen.
    Kurz vor dem Ende erzählte ihm sein Großvater mit fast völlig tonloser Stimme, er habe angefangen, sich an sein Leben zu erinnern. Er hatte die Tage seiner Kindheit in Toronto durchforscht und sich auf Ereignisse besonnen, die achtzig Jahre zurücklagen: wie er seinen jüngeren Bruder gegen eine Schlägerbande verteidigt hatte, wie er an Freitagnachmittagen den jüdischen Familien im Viertel Brot gebracht hatte, all diese belanglosen, längst vergessenen Dinge, die jetzt, da er bewegungsunfähig im Bett lag, zu ihm zurückkamen und die Bedeutung von religiösen Erleuchtungen annahmen. «Dass ich hier liege, gibt mir die Möglichkeit, mich zu erinnern», erzählte er A., als hätte er eine neue Fähigkeit in sich entdeckt. A. spürte, was für ein Vergnügen ihm das machte. Ganz allmählich hatte sein Großvater damit die Angst, die ihm in den letzten Wochen im Gesicht gestanden hatte, zu beherrschen begonnen. Die Erinnerung war das Einzige, was ihn am Leben erhielt, und er schien den Tod so lange wie möglich hinauszögern zu wollen, um sich weiter seinen Erinnerungen hingeben zu können.
    Er wusste es, aber er sprach es nicht aus. Bis zur letzten Woche redete er immer wieder davon, in seine Wohnung zurückzukehren; das Wort «Tod» wurde nicht ein einziges Mal erwähnt. Noch am letzten Tag wartete er mit seinem Abschied bis zum allerletzten Moment. A. ging bereits, trat schon durch die Tür, als sein Großvater ihn noch einmal zurückrief. Wieder stand A. neben dem Bett. Der alte Mann nahm seine Hand und drückte sie, so fest er konnte. Dann: ein langer, langer Augenblick. Endlich beugte A. sich vor und gab seinem Großvater einen Kuss. Keiner von ihnen sagte ein Wort.

    A. erinnert sich an einen Ränkeschmied, einen Geschäftemacher, einen Mann von bizarrem und grandiosem Optimismus. Wer sonst hätte schließlich, ohne eine Miene zu verziehen, seine Tochter Queenie nennen können? Doch bei ihrer Geburt hatte er erklärt: «Sie wird eine Königin», und dann konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Bluffs, symbolische Gesten, Leben in die Bude bringen – das war sein Lebenselexier. Viele Witze, viele Freunde, ein unfehlbares Gefühl für Timing. Er war ein heimlicher Spieler, er betrog seine Frau (je älter er wurde, desto jünger die Freundinnen), und nie ließ seine

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