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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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die Uniform der New York Giants und trabte in den Polo Grounds auf seine Position an der Third Base, und wenn sein Name aus den Lautsprechern kam, brach die Menge in wilden Jubel aus. Tag für Tag warf er nach der Schule einen Tennisball gegen die Treppenstufen vor seinem Haus, und jede seiner Gesten war Teil eines World-Series-Matches, das sich in seinem Kopf abspielte. Es lief immer auf zwei Outs am Ende des neunten Innings hinaus, ein Mann an der Base, die Giants einen Zähler im Rückstand. Jedes Mal war er am Schlag, und jedes Mal gelang ihm der siegbringende Homerun.
    An diesen langen Sommertagen in der Wohnung seines Großvaters ging ihm allmählich auf, dass die Stärke des Baseballs die Stärke der Erinnerung war. Erinnerung in beiden Bedeutungen des Wortes: als Katalysator für die Rückschau auf sein eigenes Leben und als künstliche Struktur für die Ordnung der historischen Vergangenheit. 1960 zum Beispiel wurde Kennedy zum Präsidenten gewählt; es war aber auch das Jahr von A.s Bar-Mizwa, das Jahr, in dem er angeblich ins Mannesalter eingetreten war. Aber was ihm als erstes in den Sinn kommt, wenn von 1960 die Rede ist, ist Bill Mazeroskis Homerun, mit dem die Yankees in den World Series geschlagen wurden. Er sieht noch immer den Ball über den Zaun des Forbes Fields schweben – diese hohe, finstere Barriere, so dicht übersät mit weißen Zahlen –, und indem er sich die Gefühle jener Sekunde, jenes jähen Augenblicks verblüfften Entzückens, ins Gedächtnis zurückruft, kann er wieder in seine Vergangenheit zurückkehren und in eine Welt eintreten, die ihm ansonsten verlorengegangen wäre.
    Er liest in einem Buch: Seit 1893 (dem Jahr vor der Geburt seines Großvaters), als das Wurfmal um zehn Fuß zurückversetzt wurde, hat sich an der Form des Spielfeldes nichts mehr geändert. Der Diamond ist Teil unseres Bewusstseins. Seine makellose Geometrie aus weißen Linien, grünem Rasen und brauner Erde ist uns als Symbol ebenso vertraut wie die Stars und Stripes. Im Gegensatz zu so ziemlich allem anderen im amerikanischen Leben dieses Jahrhunderts ist Baseball unverändert geblieben. Von wenigen unbedeutenden Änderungen abgesehen (Kunstrasen, Designated Hitters), wird das Spiel heute noch fast genauso gespielt wie zur Zeit von Wee Willie Keeler und den alten Baltimore Orioles: jenen längst gestorbenen jungen Männern mit Schnauzbart und heldenhaften Posen, die wir auf alten Fotografien bewundern.
    Was heute geschieht, ist lediglich eine Variation dessen, was gestern geschah. Das Gestern ist ein Echo des Heute, und das Morgen lässt schon ahnen, was nächstes Jahr sein wird. Die Vergangenheit des Profibaseballs ist unversehrt. Jedes Spiel ist in einer Liste verzeichnet, es gibt Statistiken für sämtliche Hits, Fehler und Base on Balls. Man kann verschiedene Spiele, Spieler und Mannschaften miteinander vergleichen, man kann von den Toten reden, als wären sie noch am Leben. Sich als Kind diesem Spiel hinzugeben bedeutet zugleich, sich vorzustellen, es als Erwachsener zu spielen, und die Macht dieses Traums ist selbst im zwanglosesten Straßenspiel zu spüren. A. fragt sich, wie viele Stunden seiner Kindheit er mit dem Versuch zugebracht haben mag, Stan Musials Schlaghaltung (Füße geschlossen, Knie gebeugt, Rücken in straffem Bogen vorgekrümmt) oder Willie Mays’ Korbfänge nachzuahmen? Umgekehrt leben diejenigen, die es zu Profispielern gebracht haben, stets in dem Bewusstsein, dass sie die Träume ihrer Kindheit ausleben – dass sie also praktisch dafür bezahlt werden, Kinder zu bleiben. Und die Tiefe solcher Träume sollte nicht unterschätzt werden. A. kann sich erinnern, wie er in seiner jüdischen Kindheit die letzten Worte der Passahhaggada, «Nächstes Jahr in Jerusalem», mit dem hoffnungsvollen Refrain des enttäuschten Fans, «Wartet bis zum nächsten Jahr», durcheinandergebracht hatte, als wäre das eine ein Kommentar zum anderen gewesen: Den Sieg zu erringen bedeutete, ins Gelobte Land einzuziehen. Baseball und religiöses Erleben hatten sich in seinem Kopf irgendwie durchdrungen.

    Gerade zu der Zeit, als A. im Treibsand des Baseballs zu versinken begann, kam Thurman Munson ums Leben. A. fiel auf, dass Munson der erste Yankee-Captain seit Lou Gehrig war, dass seine Großmutter an Lou Gehrigs Krankheit gestorben war und dass der Tod seines Großvaters kurz auf den von Munson erfolgen würde.
    Die Zeitungen brachten jede Menge Artikel über den Catcher. A. hatte Munsons Spiel

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