Die Erfindung der Einsamkeit
verschwinden, wo sich Vergangenheit und Gegenwart begegnen. Und dann schreibt er: wie in dem Satz: «Er hat das Buch der Erinnerung in diesem Zimmer geschrieben.»
Die Erfindung der Einsamkeit.
Er will sagen. Soll heißen: Er meint. Wie im französischen «vouloir dire», was wörtlich bedeutet: sagen wollen, was aber tatsächlich bedeutet: meinen. Er will sagen, was er will. Er will sagen, was er meint. Er sagt, was er meinen will. Er meint, was er sagt.
Wien 1919.
Kein Sinn, ja. Doch kann man unmöglich behaupten, uns würde nichts quälen. Freud hat solche Erfahrungen als «unheimlich» beschrieben – das Gegenteil von «heimlich», was so viel heißt wie «vertraut», «heimatlich», «zum Heim gehörend». Das Wort besagt also, dass wir aus der schützenden Hülle unserer gewöhnlichen Wahrnehmungen herausgestoßen sind, als wären wir plötzlich außerhalb unserer selbst in einer Welt gestrandet, in der wir uns nicht auskennen. Definitionsgemäß sind wir in dieser Welt verloren. Wir können nicht einmal hoffen, darin einen Weg zu finden.
Freud argumentiert, dass jedes Stadium unserer Entwicklung mit allen anderen zugleich existiert. Auch in uns Erwachsenen liegt die Erinnerung daran begraben, wie wir die Welt als Kinder wahrgenommen haben. Und nicht bloß die Erinnerung: Das Ganze selbst ist noch intakt. Freud verbindet die Erfahrung des Unheimlichen mit einem Wiederaufleben der egozentrischen, animistischen Welt-Sicht der Kindheit. «Es scheint, dass wir alle in unserer individuellen Entwicklung eine diesem Animismus der Primitiven entsprechende Phase durchgemacht haben, dass sie bei keinem von uns abgelaufen ist, ohne noch äußerungsfähige Reste und Spuren zu hinterlassen, und dass alles, was uns heute als ‹unheimlich› erscheint, die Bedingung erfüllt, dass es an diese Reste animistischer Seelentätigkeit rührt und sie zur Äußerung anregt.» Er schließt: «Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden, oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.»
Das alles erklärt natürlich nichts. Bestenfalls dient es dazu, den Vorgang zu beschreiben, auf das Terrain hinzuweisen, auf dem er stattfindet. In dieser Hinsicht ist A. mehr als bereit, es als wahr zu akzeptieren. Un heim lichkeit also als Erinnerung an ein anderes, weit zurückliegendes Heim des Geistes. Genauso wie bei einem Traum, der sich einer Interpretation entzieht, bis irgendein Freund eine schlichte, schier selbstverständliche Deutung vorschlägt, kann A. zwar nicht beweisen, ob Freuds Argumentation wahr oder falsch ist, doch kommt sie ihm richtig vor, und er ist mehr als bereit, sie zu akzeptieren. All diese Zufälle, die sich um ihn herum vervielfältigt zu haben scheinen, haben demnach irgendeine Verbindung zu einer Erinnerung aus seiner Kindheit, als würde die Welt, wenn er sich an seine Kindheit zu erinnern beginnt, zu einem früheren Zustand ihrer selbst zurückkehren. Das kommt ihm richtig vor. Er erinnert sich an seine Kindheit, und in der Gegenwart ist sie ihm in der Form jener Erfahrungen erschienen. Er erinnert sich an seine Kindheit, und sie schreibt sich für ihn in der Gegenwart nieder. Vielleicht meint er das, wenn er schreibt: «Sinnlosigkeit ist das oberste Prinzip.» Vielleicht meint er das, wenn er schreibt: «Er meint, was er sagt.» Vielleicht meint er das. Und vielleicht nicht. Es gibt keine Möglichkeit, darüber Gewissheit zu erlangen.
Die Erfindung der Einsamkeit. Oder Geschichten von Leben und Tod.
Die Geschichte beginnt mit dem Ende. Sprich oder stirb. Und solange du weitersprichst, wirst du nicht sterben. Die Geschichte beginnt mit dem Tod. König Schehrijâr ist zum Hahnrei gemacht worden: «Und es war kein Ende des Küssens und Kosens, des Buhlens und Liebelns.» Er zieht sich von der Welt zurück und schwört, nie wieder den Listen der Weiber zu erliegen. Als er später auf seinen Thron zurückkehrt, befriedigt er seine körperlichen Bedürfnisse mit Frauen, die er aus dem Königreich herbeischaffen lässt. Sobald er genug hat, ordnet er ihre Hinrichtung an. «Und so trieb er es drei Jahre lang, bis es keine mannbare Jungfrau mehr im Lande gab, und alle Frauen und Mütter und Väter weinten und fluchten ihrem König und beklagten sich bei dem Schöpfer von Himmel und Erde und flehten Ihn um Hilfe an, der die Gebete derer erhört, die Ihn rufen; und wer noch Töchter hatte, floh mit ihnen,
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