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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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immer neuen Varianten seine Fragen gestellt und in seinem Privatleben herumgewühlt hätte, wäre Lucia heute schon frei. Denn er hätte das Geld kassiert, es ins Ausland transferiert und sich längst ein schönes neues Leben gemacht, und niemand wäre zu Schaden gekommen; das verwöhnte Püppchen, sagte er, hätte die paar Tage ohne Dior- und Chanel-Utensilien schon verkraftet; ihm, Talhoff, sei es nun völlig egal, was mit ihr geschehe, er habe den Eltern immer klargemacht, wenn Polizei ins Spiel komme, bringe er Lucia um. Da Funkel keine andere Wahl hatte, als die Eltern über das Geständnis ihres alten Freundes zu informieren, passierte es, dass die Presse von der Festnahme Wind bekam und öffentlich fragte, wieso es erfahrenen Kommissaren des Dezernats 11 nicht gelang, das Opfer zu befreien, wenn man bereits den Täter gefasst habe. Thon warf Süden vor, Talhoff falsch eingeschätzt zu haben, und Süden erklärte noch einmal, dass der Mann von sich aus und vollkommen unerwartet ein Geständnis abgelegt habe; offensichtlich wollte er damit die Polizei lächerlich machen und seinen Freund Simon, den er zutiefst hasste und beneidete und verachtete, in aller Öffentlichkeit demütigen. Talhoff spielte ein Spiel, er bestimmte die Regeln, und wenn er keine Lust mehr hatte, hörte er einfach damit auf, es kümmerte ihn nicht, dass er damit das Leben eines Menschen riskierte. Er schwieg. Und obwohl Süden, Sonja, Heuer und zehn weitere Polizisten Talhoffs Wohnung auf den Kopf stellten und innerhalb eines Tages hundertfünfzig Personen befragten, mit denen er auf irgendeine Weise in Verbindung stand, gelang es ihnen nicht, den geringsten Hinweis zu entdecken. Es gab einige Polizisten im Dezernat, die Tabor Süden für die katastrophale Wendung des Falles verantwortlich machen und ihn suspendiert sehen wollten, aber Karl Funkel lehnte wie immer jede übereilte Strafaktion ab, vor allem, weil Süden selbst anfing, sich schuldig zu fühlen und seine Handlungsweise zu verurteilen. Zwei Tage vergingen, Tage des Telefonterrors und der Angst, jeder Anruf könnte die Nachricht vom Tod der Lucia Simon bringen. In den Vernehmungen, die jeweils nur für drei bis vier Stunden unterbrochen wurden, erzählte Talhoff bereitwillig aus seinem Leben, das er für reichlich lächerlich hielt, und er bot an, Lucia freizulassen, falls man ihn laufen und unbehelligt nach Südamerika ausreisen lasse. Nach weiteren drei Tagen begegnete Tabor Süden, den manche Journalisten den
Seher
nannten, weil er, wie sein Freund Martin Heuer behauptete, die Aura von Menschen sehen konnte (was Unsinn sei, wie Süden erwiderte), einem kleinen Mädchen, das sich vor dem Haus, in dem Talhoff wohnte, herumtrieb. Er hatte es schon bei seinen vorherigen Besuchen bemerkt, aber nicht weiter beachtet. Als er es jetzt ansprach, begann es zu weinen und lief vor ihm weg; er folgte ihr, bis sie plötzlich stehen blieb, ihre kleinen Hände hochhielt und sie dann in den weit aufgerissenen Mund steckte. Als sie so dastand in ihrem blauen Wollmantel, die blonden kurzen Haare am Hinterkopf mit einer rosa Schleife zusammengebunden, und an ihren zehn Fingern lutschte, begriff Süden, dass er sie schon einmal gesehen hatte, und zwar auf einem Foto, das sie in Talhoffs Wohnung gefunden hatten; es zeigte Lucia und dieses Mädchen, das ungefähr fünfzehn Jahre jünger war als sie, und sie standen auf einer Lichtung und winkten. In der Nacht darauf fand ein Suchtrupp Lucia Simon in einem Wald bei Kloster Andechs, vergraben in einer engen Kiste, erstickt. Sie hatte die Nägel ihrer zehn Finger abgekaut und mit Blut aufs Holz geschrieben:
Kein Winken mehr, Lena.
    Hier bin ich, hier, rief er heiser und tauchte als lebender Rauch durch das winzige Rohr, das an die Erdoberfläche führte, in ihr Verlies und brachte ihr Luft mit, kühle saubere Herbstluft von der Lichtung, auf der sie mit Lena spazieren gegangen war. Erinnerst du dich?, Hendrik hat uns fotografiert, und wir haben uns groß gemacht, weil er so weit weg war mit seiner Kamera. Wir haben ihm gewunken, und ich hab dir Kastanien geschenkt, weißt du nicht mehr? Ich bin es, Lena, ich hab dich im Fernsehen gesehen, hier bin ich, hier, hol tief Luft, dann siehst du mich!
    Und er sprang von einer Wand zur anderen, und die Kiste wurde ein Zimmer, ein Saal, ein Palast, und er öffnete die Fenster, Flügel aus Glas, und der Wind brachte sich selbst als Geschenk mit, schau, was für ein Tag, mit glühenden Blättern schmiedet die

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