Die Erfindung des Abschieds /
seine Handgelenke anstarrte, als könne er nicht glauben, dass sie noch dran waren.
»Ich hab keine Lust mehr, mit euch zu reden«, sagte Sonja. »Ich bin hier, weil ich was Dringendes zu erledigen hab, und ihr stört mich dabei. Was ihr hier abgezogen habt, das war versuchter Mord, und wenn ihr glaubt, nur weil ihr aus einem Dorf seid und am Freitagabend nichts Besseres zu tun habt, kommt ihr ungeschoren davon, dann täuscht ihr euch. Was hat euch dieser Mann eigentlich getan, dass ihr hier mit einem Benzinkanister und Baseballknüppeln auftaucht?«
»Der Typ hat uns provoziert. Außerdem macht er sich an Kinder ran, das Schwein!«, krächzte Ringo, der kaum noch einen Ton herausbrachte.
»Bei versuchtem Mord kommt ihr um eine Anklage wegen Beamtenbeleidigung und übler Nachrede herum, und jetzt haut ab, bevor ich die Geduld verliere!« Sie hatte die Pistole immer noch in der Hand und machte keine Anstalten, sie einzustecken.
Eingeschüchtert stand Jossi auf, schaute sich nach seinem Messer um, warf Sonja einen schnellen Blick zu und trollte sich dann in Richtung des Weges, der ins Tal hinunterführte. Die beiden anderen sahen sich an, Alfons deutete mit dem Kopf zu Jossi, und wortlos trabten sie hinter ihm her.
Sonja wartete, bis sie um die erste Biegung verschwunden waren.
»Was für ein Glück, dass ich rechtzeitig gekommen bin«, sagte sie. »Wie geht’s dir?«
»Was willst du hier?«, fragte er und legte den Kopf schief, weil ihm dann vorübergehend die Schulter weniger wehtat.
»Ich bin hier, um zu betteln«, sagte sie, steckte die Waffe ins Halfter und zog ein Handy aus der Jackentasche.
»Ich komm nicht mit zurück«, sagte er.
»Mach mir was zu trinken!«, sagte sie.
»Einen Tee?«
»Ich bin nicht krank. Hast du nichts Vernünftiges?«
»Tequila.«
»Und warum holst du dann die Flasche nicht endlich?«
Sie wählte die Nummer des Taginger Polizeireviers, und er betrachtete sie eindringlich. Wie immer trug sie ihre schwarzen Jeans, ihre schwarze Jacke und ihre Schirmmütze aus Leder. Doch etwas war anders als früher, etwas an ihr hatte sich verändert.
Endlich wusste er, was es war.
»Warum hast du dir die Haare abgeschnitten?«, fragte er.
Sonja antwortete nicht. Sie saß auf dem schmalen Fensterbrett und er in dem ausgefransten Korbstuhl, die Beine gespreizt, die Ellbogen auf den Armlehnen. Er sog an seiner leeren Pfeife. Tür und Fenster standen offen, und eine schwere Schwüle drang herein, der dampfende Atem eines gehetzten Sommers. Hier war es wärmer als in der Stadt, aber den Benzingeruch fand Sonja unerträglich, und so streckte sie alle fünf Minuten den Kopf weit aus dem Fenster und rubbelte sich die Nase ab.
Sie hob die Tequilaflasche hoch, sagte: »Möge es nützen!«, trank, schraubte die Flasche zu und warf sie Tabor zu, der sie auffing. Er hob sie ebenfalls hoch, sagte: »Möge es nützen!«, trank und spielte damit herum, bis Sonja ihm ein Zeichen gab und die Flasche wieder bei ihr landete.
»Wie geht’s Martin?«, fragte er.
Bevor sie antwortete, vergingen einige Sekunden, und sie blickte aus dem Fenster, hinüber auf die andere Seite der Schlucht zu einem kahlen steilen Hang.
»Ein Trottel hat auf ihn geschossen, aber es ist ihm nichts passiert.«
»Was für ein Trottel?«
»Ein Trottel.« Sie trank einen Schluck, wischte sich den Mund ab und stellte die Flasche auf den Boden. »Ich bin hier, weil Charly mich geschickt hat. Ich wär sonst nicht gekommen, das weißt du. Er möchte wissen, ob du deinen Dienst wieder antrittst oder nicht. Dein Sonderurlaub ist zu Ende, definitiv, keine Extrabehandlung mehr. Du wirst suspendiert und verlierst sämtliche Ansprüche. Wir haben einen neuen schweren Fall, und wir brauchen jeden, der zur Verfügung steht. Wenn du dich entziehst, fliegst du raus. Du hast dich neun Monate entzogen, jetzt reicht’s. Mir reicht’s. Wir haben alle keine Lust mehr, deine Arbeit mitzumachen, vor allem Martin nicht, er hat sich völlig überanstrengt. Wegen dir, auch wegen dir.« Sie beugte sich nach unten, um nach der Flasche zu greifen. Dann hielt sie inne, warf Süden einen Blick zu und lehnte sich wieder an den Fensterrahmen.
»Ich hab von dem Fall gehört«, sagte er. »Raphael Vogel, ein neunjähriger Junge.«
»Woher weißt du das?«, fragte sie.
Er deutete auf einen Schemel, auf dem ein Radiorecorder stand.
Sie schwiegen.
Es war dunkel. Vögel sangen, und die Erzählung des Waldes dauerte knisternd, knackend, raschelnd an. Sonja
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