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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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haben«, sagte Sonja und nahm ihre Tasche vom Tisch.
    »Wiedersehen, Kollege«, sagte sie zu Pulk, der aufstand und hustete.
    »Servus«, sagte er.
    Sie ging zur Tür und gab Hoferer die Hand. »Wie lange werde ich bis zur Hütte brauchen?«
    »Was meinst, Hannes?«, fragte Hoferer, und Pulk kratzte sich unter der Achsel.
    »Eine Stunde«, meinte er mürrisch.
    »Eher eineinhalb«, sagte Hoferer.
    Er stieg in den Streifenwagen, der auf dem Parkplatz neben der Polizeistation stand, und Sonja folgte ihm in ihrem Lancia durchs Dorf, während Hannes Pulk ins Telefon brüllte.
    »So eine Scheiße! Wann sind die denn weg? Was? Was ist? Mit was für einem Auto? Versteh nix, Miroslav, lauter! Ich hab denen doch gesagt, sie sollen das lassen! Jetzt kann ich auch nichts mehr ändern. Du weißt von nichts, kapiert? Und ich auch nicht! Leck mich.« Er knallte den Hörer auf, ging zum Kühlschrank im anderen Zimmer und nahm eine Flasche Bier heraus.
    Über den schwarzen Golf mit dem blitzenden Heckspoiler, der an der Zufahrtsstraße zum Rabenkogl in der Nähe des Waldes parkte, zerbrach sich Sonja Feyerabend nicht weiter den Kopf.
     
    Wie ein Besessener schlug der nackte Mann, der sich selbst nicht erkennen würde, wenn er sich im Spiegel sähe, auf die Trommel ein, die er sich mit einem Gürtel um den Bauch gebunden hatte. Er sprang durch den engen Raum und summte dazu; ein tiefer rauer Singsang. Auf dem Kopf trug er einen Kranz aus Federn, wie eine Krone. Vor einer flackernden Kerze lagen eine verzierte Pfeife aus Ton, an der eine Adlerfeder hing, ein lederner Tabaksbeutel und ein Päckchen Streichhölzer. So wild seine Beine sich auch bewegten und so ausholend seine Arme durch die Luft wirbelten, nie überschritt er einen imaginären Kreis auf dem Boden, in dessen Mitte winzige Tierknochen lagen, zu einem Sechseck angeordnet.
    Als Schatten, der die Macht dessen, der ihn warf, für unerhörte Momente überwand, kroch Tabor Süden durchs Herbstlaub in die Erde, wo eine junge Frau wohnte, die nach Atem gierte.
    Oben, Hunderte von Kilometern entfernt, brüllten wütende Reporter ratlose Polizisten an, und die Eltern der jungen Frau baten stumm um Gnade. Vor zwei Monaten war die zweiundzwanzigjährige Tochter eines bekannten deutschen Show-Masters, Lucia Simon, entführt worden, und einen Monat lang hatten die Eltern mit dem Kidnapper um Geld verhandelt und ihm versichert, sie hätten, wie er es gefordert hatte, die Polizei nicht eingeschaltet; doch der Kidnapper durchschaute ihre Lüge und gab ihnen noch drei Tage Zeit, um die zwei Millionen Mark, die er für die Freilassung ihrer Tochter forderte, aufzutreiben. Die Journalisten verfolgten Ronny Simon und seine Frau Hella auf Schritt und Tritt, und die Vorwürfe gegen die erfolglose Polizei nahmen Ausmaße einer Hetzjagd an. Nach dem Bericht einer Münchner Boulevardzeitung forderte Staatssekretär Erwin Hauser aus dem Innenministerium die Entlassung von Kriminaloberrat Funkel, der die Sonderkommission Simon leitete, und von Hauptkommissar Tabor Süden, der angeblich bereits mehrere Verdächtige vernommen hatte, ohne dass die Fahndung einen Schritt vorangekommen wäre. An der Suche nach der verschwundenen Lucia, die gerade ihre erste Hauptrolle in einer Fernsehserie gespielt und wegen ihrer blonden Haarpracht und ihrer sphärischen Erscheinung den Spitznamen »Engelchen« bekommen hatte, beteiligten sich sämtliche deutschen Medien, die die Bevölkerung aufforderten, jede scheinbar unbedeutende Beobachtung sofort der Polizei zu melden. So gingen jeden Tag Hunderte von Hinweisen im Dezernat ein, und kein einziger davon taugte etwas. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die brutale Profis für die Täter hielten, denen es ausschließlich ums Geld ging, verfolgte Tabor Süden eine andere, eigene Spur, auf die er bereits zwei Tage, nachdem die Eltern die Polizei informiert hatten, gestoßen war. Hendrik Talhoff, ehemaliger Gagschreiber für Ronny Simon und zeitweise Babysitter von dessen Tochter und enger Freund der Familie, stand von Beginn der Entführung an als einer der engagiertesten Helfer Simon zur Seite. Mit seinem Dobermann sorgte er dafür, dass kein Sensationsreporter das Grundstück des Show-Masters am Starnberger See betrat. Schließlich, nach harten Vernehmungen durch Tabor Süden, gab Hendrik Talhoff zu, Lucia entführt zu haben. Gleichzeitig sagte er, mit seiner Enttarnung habe Süden das Todesurteil des Mädchens unterschrieben; wenn Süden nicht so hartnäckig und in

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