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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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mir weg, Tabor!«, sagte sie und achtete darauf, ihn nicht zu berühren.
    »Ich will allein sein, das ist alles«, sagte er. »Neun Monate sind nicht genug, um klar zu werden. Ich muss noch so viel lernen, Sonja. Ich hab nicht gewusst, wie wenig ich weiß. Von mir, von allem, von dir …«
    »Von mir?« Sie wollte jetzt sprechen, sie wollte jetzt ihren Mund nicht mehr halten, sie wollte jetzt nicht mehr die Bettlerin sein. »Du willst was von mir wissen, Tab? Das kann ich dir sagen, hier, sofort, hör mir zu, hör mir einfach zu, ich sag dir was von mir. Ich bin hierher gekommen, weil ich gehofft habe, ich könnte dich überzeugen, ich könnte dir helfen, aus deiner Isolation rauszukommen. So eine bin ich, ich sitz am Telefon und warte auf deinen Anruf, aber du lässt mich warten. Ich rede Tag und Nacht mit dir, und du haust einfach ab, bist einfach verschwunden, einfach weg. Ich wach auf und du bist weg, fährst in dieses Dorf und gräbst dich ein. Und ich sitz da und heul wie eine Vierzehnjährige, die zum ersten Mal verlassen wurde. Du hast mich verletzt, Tabor, du hast mich belogen, du wolltest mir nicht zuhören, du wolltest meine Hilfe nicht, du hast nur so getan im letzten Winter, nachdem die Frau gestorben ist, du hast dich geweidet in Selbstmitleid, und ich hab’s nicht gemerkt, ich dachte, du leidest wirklich, aber du hast dich nur in deinem Schmerz gesuhlt. Hör mir zu! Ich bin’s, Sonja, ich bin leibhaftig, fass mich nicht an! Ich bin hierher gekommen, weil ich wissen wollte, wie’s dir geht, was du machst, und weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Ich hab deine Abwesenheit nicht mehr ertragen, dein verfluchtes Schweigen und deine Sturheit und deinen Egoismus und deine Gemeinheit …«
    Sie gab ihm eine Ohrfeige und redete schon weiter, und er bewegte sich nicht. »Und jetzt begreife ich, dass du dich gar nicht in dich zurückgezogen hast, sondern dass du dich immer noch in Selbstmitleid flüchtest, und in Rauschgift. Spezielle Pilze! Denkst du, ich weiß nicht, was du da treibst? Bist du auf dem Trip? Hörst du mich überhaupt? Oder bist du schon taub geworden vor lauter speziellen Pilzen? Du hast schon verlernt zu sprechen, so sehr bist du mit deinem Wahnsinn beschäftigt. Mit deinem Wahnsinn! Das ist Eskapismus, was du hier treibst, das ist Verblendung, mein Lieber, Weltflucht ist das, egomanische Weltflucht! Du tust einfach, was du willst, und soll ich dir sagen, wie ich das finde? Scheiße finde ich das, das ist Scheiße, einfach zu tun, was man will. Wo lebst du denn? Suchst du die Erleuchtung? Dann mach die Augen auf! Schau dir die Welt an, in der du lebst, du bist Polizist oder nicht? Du bist ein erwachsener Mann oder nicht? Du hast einen Beruf, du hast Aufgaben zu erledigen. Hältst du das für spirituell, was du hier treibst? Spezielle Pilze rauchen, auf die Trommel schlagen wie ein hysterisches Kind? Denkst du, ich hab dich nicht gehört? Der ganze Wald hat dich gehört. Es ist mir gleich, ob dein Vater bei einem Schamanen in die Lehre gegangen ist oder ob du bei einem Schamanen in die Lehre gegangen bist, du hast mir dauernd davon erzählt, hast du das vergessen? Glaubst du, ich weiß nicht mehr, was die Halskette mit dem Adler bedeutet, und die Trommel, und die speziellen Pilze? Du bist aber ein ganz gewöhnlicher Mann, vielleicht siehst du besser aus als andere Männer, und du bist ein besonderer Polizist, das bist du wirklich, du bist vielleicht der beste Polizist, der je in München gearbeitet hat. Zum hundertsten Mal, Tabor: Diese Frau ist gestorben, weil ihr Entführer sie ersticken ließ. Du konntest es nicht verhindern, du hast alles getan, was du tun konntest. Du hast in diesem Fall mehr getan als wir alle zusammen. Und ich will, dass du das begreifst. Ich will, dass du das endlich alles begreifst und wieder normal wirst. Hör auf mit dem Versteckspiel, komm raus aus dem Wald, von mir aus leg einmal die Woche deine Tierknochen auf den Boden und tanz drumherum, tu’s, rauch deine Pfeife, aber lass die speziellen Pilze weg, mach, was du willst, fahr nach Amerika, besuch deine schamanischen Freunde! Aber komm aus dem Wald raus, werd vernünftig, du hast einen Platz in der Welt, und der ist nicht im Taginger Wald, hier ganz bestimmt nicht!«
    Sie roch seinen Schweiß, denn er drückte sie an sich, und sie legte die Arme um ihn. Sein Schweiß war anders als jeder andere Schweiß, und bei diesem Gedanken hätte sie beinah laut aufgelacht.
    »Ich bin selber eine Ameise«, sagte sie,

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