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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hörte zu, ohne es zu merken.
    »Ich komm nicht mit«, sagte er, legte die Pfeife auf den Tisch und schloss die Augen.
    »Dann ist es besser, ich geh wieder«, sagte sie. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie diesen Weg überhaupt auf sich genommen hatte, und sie dachte an die mühsame Rückkehr durch den Wald bis zum Auto, an die Heimfahrt, an die vier Stunden Schlaf, die sie höchstens haben würde, an die Bemerkungen von Volker Thon, der längst gewusst hatte, wie die Aktion enden würde. Sie klopfte sich die Jeans ab und erschrak. Über ihre Schuhe krabbelte ein Schwarm Ameisen und nahm Kurs auf ihre Knöchel.
    »Ist ja ekelhaft!« Sie rieb die Schuhe an der Wand ab und schlug mit beiden Händen auf ihre Socken, bis sie sicher war, dass keine Ameise die Innenseite ihrer Hose hinaufkroch.
    »Ameisen erkennen die Einsamen«, sagte Süden und lächelte unauffällig.
    »Blöde Viecher!« Sie hüpfte auf einem Bein durch den Raum und trommelte auf die Hose.
    »Ameisen sind die Freunde der Einsamen, wusstest du das nicht?«
    »Nein, und es ist mir egal.«
    »Das juckt dich nicht, dass dich die Ameisen mögen?«
    Sie sah ihn an, und sein Lächeln brannte ein Loch in ihren Selbstschutzanzug. »Was ist?« Sie blieb stehen, schaute ihn an und kam nicht los von seinem Gesicht, das sie so lange vermisst hatte und nun am liebsten verdammt hätte; aber ihr fiel der Fluch nicht mehr ein.
    »Am Anfang der Erde, als noch keine Menschen existierten und alles in Ordnung war«, sagte er und beugte sich vor, »da gab es nur die Götter, die mit sich selber beschäftigt waren. Aber da war diese kleine griechische Insel, und auf der wurde ein Kind geboren, ein Junge, er war der erste Mensch, er hieß Aiakos, und der war der Sohn von Zeus. Er wuchs auf dieser Insel heran, und wie man sich vorstellen kann, ist das ein ziemlich langweiliges Leben, ganz allein auf der Welt. Es ging ihm schlecht, er war sauer auf seine Eltern, und er fürchtete sich. Er hatte Angst vor dem Alleinsein. Natürlich liefen auf der Insel ein paar Tiere herum, Ziegen, Schafe, aber die waren auch mit sich selber beschäftigt, so wie die Götter. Um den kleinen Aiakos kümmerte sich kein Mensch. Wie auch? Außer ihm existierte kein Mensch. Da hatte Zeus Mitleid mit ihm und verwandelte die Ameisen, die über die Erde krochen, in Menschen, in Männer und Frauen, und das war der Beginn der Menschheit. Von jetzt an war Aiakos nie wieder einsam. Aber die Freundschaft zu den Einsamen hat sich bei den Ameisen bis heute erhalten. Du brauchst also keine Angst vor ihnen zu haben.«
    »Du mit deinen Geschichten«, sagte sie.
    »Diese ist wahr.«
    »Ich bin nicht einsam.« Sie hustete und nahm wieder den Benzingeruch wahr, an den sie sich schon beinah gewöhnt hatte. Sie rieb sich über die Nase und ging zur Tür.
    »Warum hast du dir die Haare abschneiden lassen?«, fragte er zum zweiten Mal.
    »Weil es meinem inneren Aussehen entspricht«, sagte sie und atmete an der Tür tief durch.
    »Hast du auch dein Zimmer neu gestrichen?«, fragte er und stand auf. Er schwitzte, und der Hunger elektrisierte seine Gedanken.
    »Ich bin ausgezogen«, sagte sie.
    »Wann?«
    »Nimmst du Drogen?«, fragte sie. Ihre Mütze lag noch beim Fenster auf einem Stuhl, und sie ging hin. »Hier riecht’s nach Marihuana.«
    »Das sind spezielle Pilze. Ich trockne sie und vermische sie mit dem Tabak.«
    »Spezielle Pilze, natürlich. Sind die der Grund dafür, dass du nackt vor kleinen Kindern rumtanzt?«
    »Was denn sonst? Soll ich’s dir vormachen?« Er öffnete den obersten Knopf seiner Hose und zuckte zusammen, weil ihm der Schmerz aus der Schulter, wo ihn der Schürhaken erwischt hatte, wie ein Blitz durch den Körper fuhr.
    Sie setzte die Mütze auf, zog sie tiefer ins Gesicht und schaute Süden an.
    »Du siehst schlecht aus, ganz grau.«
    »Seit wann kannst du eigentlich so gut schießen?«, fragte er. Das Pflaster, das er auf die Wunde geklebt hatte, spannte über der Haut, und er hatte Lust, es abzureißen. Plötzlich wurde er unruhig, nervös und gereizt, und ein kindlicher Zorn packte ihn, weil er nicht allein war, sondern beobachtet und ausgefragt wurde und sich noch dazu dilettantisch gegen die drei Burschen gewehrt hatte. Und er hatte unbändigen Durst.
    »Ich geh zum Fluss«, sagte er, nahm einen schwarzen Pullover aus dem Koffer, der neben der Matratze auf dem Boden lag, streifte ihn über und machte einen Schritt auf die Tür zu, als sich Sonja ihm in den Weg stellte.
    »Lauf nicht vor

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