Die Erfindung des Lebens: Roman
will er mich sofort sehen. Du kommst morgen nach Köln, sagt er und legt von sich aus fest, wo und wann wir uns treffen: Am Nachmittag …, Walter Fornemann und ich – wir werden uns am darauffolgenden Nachmittag am Rhein in Köln treffen.
Dort erzähle ich ihm die ganze Geschichte, von der er bisher nur jene positiven Bruchstücke kennt, die ihm meine Mutter früher einmal am Telefon erzählt hat. Fornemann hat geglaubt, dass ich mich auf dem besten Weg befand, nicht einmal im Traum hat er für möglich gehalten, dass ich mein römisches Studium irgendwann abbrechen würde. Du siehst kaputt aus, richtig kaputt, sagt er und möchte mich am liebsten gleich mit zu einem Friseur nehmen, damit mir dort die Haare gekürzt werden.
Wir gehen bis Rodenkirchen am Rhein entlang, machen wieder kehrt, gehen zurück und machen uns erneut auf den Weg Richtung Rodenkirchen. Fornemann drängt mich, dass ich mein Studium fortsetzen und ein guter Klavierlehrer werden soll. Ich lehne das ab, ich sage ihm, dass ich nie wieder Klavier spielen werde. Er ist so entsetzt, dass er ungewöhnlich laut wird, er nennt mein Verhalten dreist, armselig und undankbar , und er gerät außer sich, als ich ihm sage, dass mich seine Angriffe nicht erreichen, ja dass sie mich nicht einmal interessieren.
Eine halbe Stunde gehen wir schweigend nebeneinander her, dann macht Fornemann einen letzten Anlauf: Hast Du irgendeine Idee für die Zukunft? – Nein, die habe ich nicht. – Was soll denn aus Dir werden, Johannes? – Ein guter Kellner. – Du bist unverschämt, Du benimmst Dich wirklich unverschämt. – Warum ist der Vorsatz, ein guter Kellner zu werden, so unverschämt? – Darauf antworte ich nicht. – Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach tun? Etwa in Kölsch-Kneipen das musikalische Hänneschen spielen? – Du wirst immer unverschämter. – Ja, das werde ich, verdammt noch einmal, Ihnen fällt doch auch nichts mehr ein, Sie sind doch genau wie ich mit Ihrem Latein am Ende! Warum reden Sie denn noch so lange herum, geben Sie es doch zu und halten Sie endlich den Mund!
Ich schreie Fornemann an, ich stehe am Rhein und tue etwas, das ich noch nie getan habe, ich beleidige meinen alten Lehrer, dem ich so viel verdanke. Ich spüre sofort, dass ich eine Grenze überschritten habe, und es tut mir auch sofort leid, noch nie habe ich mich so gehen lassen. Ich wende mich von Fornemann ab und blicke auf den Fluss, ich zittere, mir laufen Tränen übers Gesicht, verdammt, was ist denn bloß mit mir los?
Fornemann soll die Tränen nicht sehen, ich will ihm so einen entsetzlichen Auftritt ersparen, deswegen mache ich ein paar Schritte auf das Wasser zu. Es ist ganz leicht, sich das Leben zu nehmen … , warum geht mir dieser teuflische Gedanke gerade jetzt wieder durch den Kopf?
Ich hätte nach meiner Rückkehr aus Rom nicht sofort ins Haus meiner Eltern zurückkehren dürfen, ich hätte mich irgendwohin zurückziehen sollen, um mir zunächst meine Hilflosigkeit aus dem Leib zu schreien! Schreien, ja, ich hätte schreien sollen, tagelang schreien, nichts als schreien! Jetzt hat es mich zum falschen Zeitpunkt erwischt, jetzt bin ich in die Falle gelaufen.
Ich drehe mich wieder um und schaue Fornemann an: Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?! Warum gehen wir hier noch zusammen spazieren? Ich möchte allein gelassen werden, verstehen Sie, ich möchte mit Ihnen nichts mehr zu tun haben! Ergötzen Sie sich an Ihrem Debussy oder, besser noch, spielen Sie Chopin, machen Sie, was Sie wollen, aber nehmen Sie nie mehr mit mir Kontakt auf. Haben Sie verstanden?! Haben Sie endlich verstanden?!
Ich sehe, dass Fornemann schwer atmet, und ich sehe, dass ihm plötzlich die Mundwinkel nach unten sinken. Sein Gesicht verwandelt sich in eine fremde Maske, es ist eine Maske aus Stein, Fornemann schützt sich vor mir durch eine Maske , denke ich gleichzeitig und mache einen Schritt auf ihn zu.
Leben Sie wohl, sage ich und strecke ihm meine Hand entgegen, doch Fornemann rührt sich nicht. Ich halte ihm meine Hand aber weiter entgegen, ich halte meine Hand in die Luft, ein paar Sekunden halte ich sie ihm entgegen und sage dann: Hören Sie nicht auf den Mist, den ich rede, hören Sie nicht auf mich. Sie waren ein wunderbarer Lehrer, Sie waren der beste Lehrer, den ich je hatte. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, ich danke Ihnen. Aber jetzt möchte ich gehen, für immer, Sie werden das sicher verstehen.
Ich lasse die Hand sinken und gehe davon,
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