Die Erfuellung
Manche Leute finden zehn Meilen gar nichts, anderen ist eine einzige schon zu viel.«
»Sind es denn zehn Meilen?« Linda riss überrascht die Augen auf.
»Nein, das ist nur so eine Redensart von mir. Ich wette, eine Tasse Tee würde Ihnen gut tun. Kommen Sie rein. Euer Tee ist auch fertig, Jungs.« Sie nickte Schaffner und Fahrer zu. »Ihr kennt euch ja aus … Sie kommen mit mir, Miss.«
Linda folgte ihr in eine kleine Stube, die so blitzsauber, warm und gemütlich war, dass sie für einen Augenblick wünschte, sie wäre bereits am Ende ihrer Reise angelangt und könnte hier sitzen, ohne sich über ihren künftigen Arbeitgeber und seine Farm den Kopf zu zerbrechen.
Mrs Weir plapperte munter drauflos, während sie den Tee einschenkte. »Wenn er in zehn Minuten nicht da ist, gehen Sie am besten zu Fuß. Den Weg schaffen Sie in zwanzig Minuten, bis dahin ist es noch nicht einmal richtig dunkel … Da fällt mir was ein. Katie soll nach seinem Auto Ausschau halten. Katie!« Mrs Weirs Stimme schallte durch das Haus.
»Ja, Tante?«, fragte die Kleine, als sie angerannt kam.
»Lauf schnell auf den Hügel hinter dem Haus und sieh nach, ob Batleys Wagen kommt. Aber sei vorsichtig.«
»Ja, Tante.« Damit war die Kleine verschwunden.
»Direkt hinter dem Haus führt eine Treppe auf die Steilküste hinauf. Katies Beine sind noch jung, sie ist im Nu oben. Von dort aus überblickt man die ganze Küste.« Mrs Weir reichte Linda ihre Tasse und schwatzte praktisch ohne Atempause weiter. »Sie sehen gar nicht nach einem Landmädchen aus. Wenn mich einer gefragt hätte, ich wäre nicht drauf gekommen, dass Sie auf einer Farm arbeiten wollen. Sie sind so dünn, ein bisschen was von dem hier würde Ihnen gut tun.« Sie klopfte sich auf den Bauch.
Der abrupte Themenwechsel brachte Linda zum Lächeln. »Ich bin viel kräftiger, als ich aussehe«, gab sie zurück.
»Na, das will ich auch hoffen, sonst wird das nichts mit der Farmarbeit. Vor allem da oben in der Wildnis. Hier unten ist es schon schlimm genug, aber wir sind zumindest ein wenig geschützt. Da oben pfeift einem der Wind ständig um die Ohren. Kennen Sie Ralph Batley?«
»Nein.«
»Ach, ich dachte, er wäre ein Bekannter von Ihnen.«
Fast hätte Linda sich genauer nach ihm erkundigt, aber sie verkniff sich die Frage. Frauen waren überall auf der Welt gleich. So freundlich ihre Gastgeberin auch war, es war durchaus denkbar, dass sie Batley bei ihrer nächsten Begegnung brühwarm von Lindas Neugier erzählte. Das wollte sie vermeiden.
Wenige Minuten später stürmte Katie außer Atem in die Küche. »Ich kann kein Auto sehen, Tante«, meldete sie.
»Scheint, als wäre er aufgehalten worden«, meinte Mrs Weir zu Linda gewandt. »Vielleicht denkt er auch, Sie kommen heute nicht mehr, oder sein Jeep hat eine Panne. Das würde mich nicht wundern. Auf jeden Fall kann ihm alles Mögliche dazwischengekommen sein.«
»Ja, natürlich.« Linda war aufgestanden. Mrs Weir hatte sie entmutigt. Eigentlich hätte sie jetzt die Begegnung mit ihrem Arbeitgeber schon hinter sich haben sollen. Zumindest hätte sie dann gewusst, woran sie war. Stattdessen saß sie hier fest, während draußen die Dunkelheit hereinbrach.
»Mein Mann ist mit dem Lieferwagen nach Amber gefahren, sonst hätte er Sie im Handumdrehen hingebracht, aber so gehen Sie am besten gleich los. Nicht, dass ich Sie loswerden will. Wenn das Telefon funktionieren würde, hätte ich Batley angerufen, aber vorgestern hatten wir hier einen kräftigen Sturm. Da ist ein Teil der Steilküste abgestürzt, und ein paar Telefonmasten hat es auch erwischt. Bis morgen müsste alles wieder in Ordnung sein, aber das hilft uns heute nichts.«
Während Mrs Weir zur Tür voranging, plapperte sie über die Schulter gewandt weiter. »Zum Glück ist Ihr Gepäck angekommen: ein großer und zwei kleinere Koffer. Die gehören doch Ihnen, oder?«
»Da bin ich aber wirklich froh. Immerhin etwas!« Linda blickte lachend in Mrs Weirs großes Mondgesicht. »Und Mr Batley hat die Sachen mitgenommen?«
»Ja. Heute Nachmittag schon.«
Die Tatsache, dass ihr Gepäck bereits an seinem Bestimmungsort angelangt war, hellte Lindas Stimmung deutlich auf. Sie verabschiedete sich von der gesprächigen Mrs Weir und Katie mit dem Versprechen, sie bald zu besuchen. Die beiden hatten sie bis zur Ecke des zweiten Hauses begleitet, in dem sich ein Geschäft befand, dessen Läden aber geschlossen waren. »Sie können sich nicht verlaufen«, rief Mrs Weir
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