Die erregte Republik
bringen. Da »verhört« die
Bild
-Zeitung schon mal den Arbeitsminister oder ein einflussreiches Hamburger Wochenmagazin fordert brüsk von Kanzlerin und Vizekanzler, »abzutreten«. Ganz unverhohlen hat die sonst so seriöse
Zeit
in der ersten Jahreshälfte 2010 der Bundesregierung gedroht: »Wenn Schwarz-Gelb sich nach der Sommerpause nicht berappelt hat, dann muss und wird diese Gesellschaft einen Weg finden, sie loszuwerden.« 28
Dies zeigt, dass die Medien in unserer Gesellschaft mittlerweile eine Rolle spielen, die weit über die ihnen vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben hinausgeht. Dies liegt auch daran, dass es nach wie vor keine Übereinkunft darüber gibt, welche Aufgaben der Journalismus in der Demokratie genau hat. Das Grundgesetz gibt immerhin Anhaltspunkte: Die klassischen Aufgaben der Medien in einer freiheitlichen Gesellschaft |48| sind Information, Interessensartikulation sowie Kritik und Kontrolle. 29 An erster Stelle steht die Information der Bürger, das Berichten über aktuelle Geschehnisse und Vorhaben. Die zweite Aufgabe der Medien ist es, allen wichtigen Gruppen und Interessen in der Gesellschaft Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Mitwirkung am Diskurs zu geben. Journalisten organisieren und moderieren also das Selbstgespräch der Gesellschaft, die Medien stellen den Resonanzboden für die demokratische Öffentlichkeit bereit. Dies ist die Artikulationsfunktion: möglichst allen, von den Migranten bis zur Großindustrie, zu einer Stimme zu verhelfen, damit sie und ihre Bedürfnisse auch gehört werden. Die dritte Aufgabe der Presse ist die Kritik- und Kontrollfunktion, das Aufdecken von Missständen, der kritische Blick auf das Handeln der Mächtigen. Dies ist die Funktion des Journalismus als viel beschriebener »vierter Gewalt«. Doch kommt er dieser Aufgabe wirklich nach? Oder präsentieren die Medien eine eigene, nach einer höchst selektiven Aufmerksamkeitslogik gestaltete Welt, in der Nichtigkeiten zum Skandal erhoben werden und echte Skandale unbemerkt bleiben, weil die Damen und Herren Journalisten mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind? Maßen sich nicht viele Journalisten das Recht an, so zu agieren, als ob sie nicht nur Beobachter, sondern auch Akteure aus eigenem Recht wären? »Einem ehemaligen Chefredakteur der
Berliner Zeitung
wird ein Bonmot zugeschrieben, das leider Wahlspruch eines ganzen Berufsstandes sein könnte«, schreibt die Journalistin Susanne Gaschke. »›Die Presse ist ja die vierte Gewalt‹, soll der Mann gesagt haben, ›aber was sind noch mal die anderen drei?‹« 30
Unterm Strich geht es hier um ein klassisches Henne-Ei-Problem, nämlich um die Frage, ob etwas von Bedeutung ist, weil darüber berichtet wird, oder ob es Berichterstattung gibt, |49| weil in der Realität etwas Signifikantes passiert ist. »All the news that’s fit to print« lautet der legendäre Wahlspruch der
New York Times.
Das ist ein hehrer Anspruch mit doppeltem Boden. Denn die Redaktion der
New York Times
bekennt sich damit nicht etwa dazu, alle relevanten Nachrichten zu drucken, sondern bekundet lediglich die Absicht, alle Nachrichten zu bringen, die sich zum Druck eignen. Dies verweist auf die in der Kommunikationswissenschaft oft beschriebene Schleusenwärter-Rolle der Medien, ihren Einfluss darauf, welche Nachrichten Eingang in die Berichterstattung finden und welche unterdrückt werden. Und da passt eben die Nachricht »Mann beißt Hund« nach wie vor wesentlich besser ins Konzept als der umgekehrte Vorgang. Schon durch ihre permanenten Selektionsentscheidungen, was relevant ist und was nicht, formen die Medien entscheidend unser Bild von der Realität. In Erich Kästners Roman
Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
stellt jemand die Frage, warum in der Welt immer genau so viel passiert, wie in die Zeitung passt. Gleich darauf erfindet der Redakteur Münzer Straßenkämpfe in Kalkutta mit 14 Toten und 22 Verletzten. Auf diese dreiste Fälschung angesprochen, entgegnet Münzer: »Wozu das Mitleid mit den Leuten? Sie leben ja noch, alle sechsunddreißig, und sind kerngesund. Glauben Sie mir, mein Lieber, was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen.«
In dieser Bereitschaft der Medien, all das gierig aufzusaugen und aufzubauschen, was in ihre Aufmerksamkeitsschemata passt, liegen die Wurzeln der politischen Inszenierung. Oft geschieht heutzutage in der Realität nur etwas, damit schöne Bilder für die Medien entstehen. Zum Beispiel, wenn ein
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