Die erste Nacht - Roman
hatte mich bereit erklärt, Sie heute Morgen zu empfangen, weil Sie angesehene Wissenschaftler sind und von
der Royal Academy empfohlen wurden. Doch das geht zu weit, und ich werde meinen guten Ruf nicht aufs Spiel setzen, um zwei Hochstapler zu unterstützen, die mir meine Zeit stehlen.«
Keira und ich hatten Mühe, Poincarnos Erregung zu verstehen.
»Was haben Sie entdeckt?«, fragte Keira.
»Ehe ich Ihnen antworte, sagen Sie mir, wo und unter welchen Umständen Sie diese Harzkugel gefunden haben.«
»In einem Grab im Norden des Omo-Tals. Sie lag auf dem Brustbein eines fossilierten menschlichen Skeletts.«
»Unmöglich! Sie lügen!«
»Hören Sie, Doktor, ich habe nicht mehr Zeit zu verlieren als Sie. Wenn Sie uns für Hochstapler halten, dann ist das Ihr gutes Recht! Doch Adrian ist ein renommierter Astrophysiker, und auch ich habe einige Verdienste vorzuweisen. Wenn Sie uns nun bitte sagen würden, was Sie uns vorwerfen?«
»Hören Sie, junge Frau, Sie können die Wände meines Büros mit Ihren Diplomen tapezieren, das würde auch nichts ändern. Was sehen Sie hier?«, fragte er und wechselte zum nächsten Bild.
»Mitochondrien und DNA-Fasern.«
»Ja, das stimmt.«
»Und wo liegt das Problem?«, erkundigte ich mich.
»Vor zwanzig Jahren ist es uns gelungen, die DNA eines in Bernstein konservierten Rüsselkäfers zu analysieren. Er wurde im Libanon zwischen Jezzine und Dar el-Beida gefunden, wo er von Harz eingeschlossen wurde. Selbiges hat sich in Stein verwandelt, und so blieb er unbeschadet. Dieses Insekt war einhundertdreißig Millionen Jahre alt. Können Sie sich vorstellen, was wir anhand dieser Entdeckung, die noch heute das älteste Zeugnis eines komplexen lebenden Organismus ist, gelernt haben?«
»Das freut mich für Sie«, erwiderte ich, »aber was hat das mit uns zu tun?«
»Adrian hat recht«, meinte Walter, »ich verstehe immer noch nicht, wo das Problem liegt.«
»Das Problem besteht darin«, erklärte Poincarno schroff, »dass die DNA, die Sie mir zur Analyse vorgelegt haben, dreimal älter wäre, das zumindest ergibt die Spektroskopie. Demnach wäre es sogar vierhundert Millionen Jahre alt.«
»Aber das ist doch eine fantastische Entdeckung«, rief ich begeistert.
»Das dachten wir am frühen Nachmittag auch, obwohl einige Kollegen, die ich sogleich benachrichtigt habe, skeptisch waren. Die Mitochondrien, die Sie auf dieser dritten Aufnahme sehen, sind in einem derart perfekten Zustand, dass uns Zweifel gekommen sind. Aber gut, nehmen wir an, jenes besondere Harz, das wir noch nicht haben zuordnen können, hätte sie über diesen langen Zeitraum konserviert - was ich im Übrigen nicht glauben kann. Sehen Sie sich das folgende Bild genau an, es ist eine Vergrößerung des vorherigen mit einem elektronischen Mikroskop. Gehen Sie bitte näher zur Wand, ich möchte unter keinen Umständen, dass Ihnen etwas von diesem Schauspiel entgeht.«
Keira, Walter und ich traten näher.
»Es ist ein X-Chromosom, der erste Mensch war eine Frau!«, rief Keira aufgeregt.
»Ja, ganz offensichtlich handelt es sich bei dem Skelett, das Sie gefunden haben, um das einer Frau und nicht um das eines Mannes, aber nicht das macht mich so wütend, ich bin kein Frauenfeind.«
»Ich verstehe das immer noch nicht«, murmelte Keira und lächelte, »das ist doch fantastisch. Eva ist vor Adam entstanden.«
»Na, das wird dem Ego des Mannes ganz schön zusetzen«, meinte ich.
»Machen Sie ruhig Ihre Witze«, erwiderte Poincarno, »denn gleich wird es noch lustiger! Treten Sie näher und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
»Ich habe keine Lust auf Ratespielchen, Doktor. Diese Entdeckung ist mehr als eindrucksvoll, und für mich persönlich ist es der Abschluss eines Jahrzehnts der Arbeit und der Opfer. Also sagen Sie uns, was Sie daran so stört. Auf diese Weise können wir Zeit gewinnen, und ich meine herausgehört zu haben, dass die Ihre kostbar ist.«
»Ihre Entdeckung wäre sensationell, wenn bei der Evolution das Prinzip eines Rückschritts möglich wäre, aber Sie wissen ebenso gut wie ich, dass die Natur nur eine Entwicklung nach vorn zulässt. Doch die Chromosomen, die wir hier sehen, sind entwickelter als die Ihren oder die meinen.«
»Als die meinen auch?«, fragte Walter.
»Entwickelter als die aller heutigen Lebewesen.«
»Und wie kommen Sie darauf?«, fragte Walter.
»Durch dieses kleine Teil hier, das wir Allel nennen, das heißt auf jedem homologen Chromosomenpaar lokalisierte Gene. Diese
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