Die erste Todsuende
Wirkung zu rasch bemerkbar. Wahrscheinlich eine Amphetaminspritze. Doch was auch immer. Dr. Otto Morgenthau war wie umgewandelt: Er war entspannt, selbstsicher, verstand zuzuhören, und seine Hände waren ganz ruhig, als er sich eine Zigarre ansteckte. Delaney berichtete von Anfang an: vom Tod der drei Opfer, dem Eispickel, was er über Bergsteiger herausgefunden hatte, darüber, wie seiner Ansicht nach die Verbrechen begangen worden waren, von den fehlenden Ausweisen - von allem, was der Arzt seiner Meinung nach wissen mußte; das einzige, was er verschwieg, war die Tatsache, daß er zur Zeit beurlaubt und mit der offiziellen Ermittlung nicht betraut war.
„Eine Verbindung zwischen den drei Opfern ist ausgeschlossen?" fragte Morgenthau.
„Ja, Sir. Wir haben nichts dergleichen entdecken können."
„Und was möchten Sie von mir?"
„Was Sie uns auch früher schon gegeben haben, ein psychiatrisches Charakterporträt des Verbrechers. Das war immer sehr hilfreich, Doktor."
„Schon möglich." Morgenthau nickte. „Wenn es sich um Vergewaltigung und Bombenanschläge handelte - ein ziemlich weit verbreiteter Zeitvertreib heute —, da konnte man auf eine Fülle von Material zurückgreifen. Hier haben wir es mit einem Massenmörder zu tun. Glücklicherweise kommt Massenmord relativ selten vor. Viel Literatur gibt es auf diesem Gebiet nicht. Ich habe mich einmal an einer kurzen Monographie versucht, die Sie aber wohl kaum kennen werden. Der Abdruck erschien in einer obskuren deutschen psychiatrischen Zeitschrift. Mit einem psychiatrischen Charakterbild des Massenmörders kann ich Ihnen nicht dienen."
„Aber können Sie mir nicht wenigstens irgendwelche Anhaltspunkte geben", sagte Delaney verzweifelt. „Zum Beispiel über die Motivation. Selbst ganz allgemeine Feststellungen könnten mir helfen. Was glauben Sie - ist der Mörder anormal?"
Dr. Morgenthau schüttelte ärgerlich den Kopf. „Normal. Anormal. Das sind Begriffe für Juristen. Im Bereich der Medizin haben sie nichts zu suchen. Also gut, ich will's versuchen... Meine nicht sehr umfassenden Arbeiten auf diesem Gebiet lassen mich vermuten, daß ein Massenmörder für gewöhnlich zu einem von drei weitgefaßten, nicht genau zu definierenden Typen gehört. Aber ich warne Sie: Die Motivationen überschneiden sich oft. Bei Mehrfachmördern haben wir es mit Einzelgängern zu tun. Ich habe, wie gesagt, keine eindeutigen Verhaltensmuster erkennen können. Also die drei Haupttypen... Erstens: der biologisch bedingte Typ. Bei ihnen wird der Antrieb zum Massenmord durch einen physischen Defekt ausgelöst, obgleich der Mörder natürlich auch psychologisch prädisponiert sein kann. Zum Beispiel der Gewehrschütze auf dem Turm in Texas, der - wieviele? - Menschen umgebracht hat. Soweit ich weiß, hatte er einen Gehirntumor und war beim Militär zum Scharfschützen und Totschläger ausgebildet worden. Zweitens: der psychologisch bedingte Typ. Hierbei ist im allgemeinen nicht das Milieu verantwortlich zu machen, doch ist das betreffende Individuum so extrem starkem spezifischem Druck - meist familiärer oder sexueller Natur - ausgesetzt, daß Morden, immer neues Morden, das einzige Ventil bedeutet. Ritter Blaubart könnte man diesem Typ zurechnen, Jack the Ripper, oder diesen jungen Mann in New Jersey - wie hieß er noch?"
„Unruh."
„Ja, Unruh. Und dann der dritte Typ, der soziologisch bedingte. Lebte er in einem anderen Milieu, wäre er vielleicht nie zum Mörder geworden. Doch seine Umwelt ist dermaßen bedrückend und grausam, daß er keine andere Möglichkeit hat, als zurückzuschlagen, zu töten, sich gegen eine Welt zur Wehr zu setzen, die er nicht gemacht hat, eine Welt, die ihn zermalmt, so daß nichts Menschliches mehr in ihm ist. Bei den soziologisch Motivierten handelt es sich nicht um Gettobewohner und Angehörige der brutalisierten Minderheiten. Vor ein paar Jahren gab es einen Fall - in New Jersey, glaube ich -, wo ein 'solider Bürger', ein Mann mittleren Alters, ein Angehöriger der Mittelschicht, der bei einer Bank oder einer Versicherung arbeitete - irgend so etwas - und..."
Die Viertelstunde, die Dr. Morgenthau dem Captain zugestanden hatte, war längst verstrichen, doch der Arzt redete und redete, genau, wie Delaney es vorausgesehen hatte. Es war schwer, jemandem bei seinem Lieblingsthema Einhalt zu gebieten.
„...Sonntag für Sonntag in die Kirche den Klingelbeutel herumgehen ließ", sagte Dr. Morgenthau gerade. „Und dann bringt dieser
Weitere Kostenlose Bücher