Die erste Todsuende
Das sie freispricht. Für sogenannte 'normale' Menschen ist das völlig irrational, aber dem Mörder nimmt es jedes Schuldgefühl. Was er tut, ist notwendig."
„Wie zum Beispiel?"
„Was? Nun ja, jetzt geraten wir in die Metaphysik, mir schwebt da einiges vor. Eines Tages schreibe ich ein Buch darüber. Captain, wollen Sie mich bitte einen Moment..."
Er wollte sich erheben, doch Delaney hielt ihn zurück.
„Nur eine Minute noch", sagte er bestimmt, „dann sind Sie mich los."
Morgenthau fiel in seinen Sessel zurück und blickte den Captain mit glanzlosen, müden Augen an.
„'Eisenarsch'", sagte er. „Der Massenmörder versucht, dem Chaos eine Ordnung aufzuzwingen. Nicht jene Art von Ordnung, wie wir sie möchten, sondern seine Art von Ordnung. Die Welt ist im Umbruch begriffen. Er gestaltet sie neu. Er wird mit ihr nicht fertig. Was er sucht, ist die Sicherheit eines Gefängnisses, des geliebten, vertrauten Gefängnisses. 'Faßt mich, ehe ich wieder losschlage.' Verstehen Sie? Was er sucht, ist die Institution. Oder auch die Ordnung im Universum. Die Menschheit ist unordentlich. Unberechenbar. Folglich muß er für Ordnung sorgen. Selbst wenn er dafür töten muß. Erst dann findet er Ruhe, denn in einer wohlgeordneten Welt gibt es keine Verantwortung mehr."
Delaney machte sich jetzt keine Notizen mehr, sondern lehnte sich aufmerksam lauschend vor. Dr. Morgenthau sah ihn an und gähnte plötzlich laut.
Delaney konnte nicht anders: Auch er mußte gähnen.
„Ich gehe jetzt", sagte Delaney hastig und erhob sich. „Haben Sie vielen Dank, Doktor. Sie haben mir sehr geholfen."
„Ja, meinen Sie?" sagte Morgenthau unbestimmt, raffte sich mühsam hoch und ging rasch auf die Tür zu dem angrenzenden Behandlungsraum zu.
Delaney stand an der Tür zum Wartezimmer. Er drehte sich um.
„Doktor", rief er scharf.
Morgenthau wandte den Kopf. Seine Lider waren schwer. Er blickte den Captain an und sah ihn doch nicht.
„Wer ist da?" fragte er.
„Doktor, nur noch eins...Der Mörder, um den es geht, hat drei Männer umgelegt. Keine Frauen und keine Kinder. Er hat sie mit einem Eispickel erschlagen, einer spitz zulaufenden Hacke. Einem Phallus. Ich weiß, ich rede wie ein Laie. Aber könnte es sich um einen Homosexuellen handeln? Einen latenten vielleicht? Der dagegen ankämpft. Ist das denkbar?"
Morgenthau starrte ihn an, und vor Delaneys Augen schrumpfte er in seinem ihm viel zu großen Anzug noch mehr zusammen, er verfiel zusehends, das Licht schwand aus seinen Augen.
„Denkbar?" flüsterte er. „Alles ist denkbar."
38
Voller Zorn und Schrecken mußte Delaney mit ansehen, wie die „Kommission Lombard" auseinanderfiel. Sie hatte auf einem lebenswichtigen Konzept beruht und unter dem Befehl von Pauley mit seinem Organisationstalent und seinem verwaltungstechnischen Können gute Aussicht auf Erfolg gehabt. Aber Pauley war geschaßt worden, und unter dem direkten Kommando des Stellvertretenden Commissioner Broughton brach sie einfach zusammen.
Und zwar nicht aus Mangel an Energie; Broughton hatte Energie, viel zuviel sogar. Aber es fehlte ihm an Erfahrung, eine Menschenjagd von diesem Ausmaß und dieser Komplexität zu leiten.
Broughton saß tief in der Klemme. Immer lauter wurden die Forderungen wohlhabender Bürger von der East Side, diese drei Straßenmorde endlich zu klären. Der Bürgermeister übte Druck auf den Commissioner aus, und es hieß sogar, daß der Gouverneur einen Untersuchungsausschuß einzusetzen gedenke. Der Mord an Frank Lombard war schon schlimm genug — doch daß jetzt auch noch ein Polizeibeamter sein Leben hatte lassen müssen, hatte in allen Zeitungen den Ruf laut werden lassen, endlich bessere Untersuchungsergebnisse zu erzielen.
Delaney verschwendete keine Zeit darauf, Schadenfreude über den wohlverdienten Rüffel zu empfinden, der Broughton gewiß war. Er hatte alles getan, um den Stellvertretenden Commissioner über die Art der Waffe und die Methode des Überfalls ins Bild zu setzen. Aber wenn die Wahrheit denn schon ausgesprochen werden sollte, so war seiner Meinung nach Kope selbst nicht schuldlos: Kein als Lockvogel eingesetzter Beamter hätte sich dermaßen überrumpeln lassen dürfen.
Delaney hatte alle Hände voll zu tun. Er mußte sich ständig um seine Hilfskräfte kümmern, mußte sie anrufen, mußte zu ihnen gehen und ihnen immer wieder versichern, daß das, was sie taten, unerhört wichtig sei. Als Christopher Langley ihn anrief und ihn zum Abendessen bei der
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