Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
diesen Anlässen musste er das Gähnen nicht verhalten.
Er wappnete sich mit Geduld. Zugleich empfand er mit Sir George Conway ein gewisses Mitleid. Der Mann wollte ihm offenbar etwas sagen – und hatte ebenso offenbar die Kunst der einfachen Rede verlernt. Worte waren ihm ein Mittel geworden, Tatsachen zu verschleiern – nicht, sie klarzulegen. Er war ein Meister im Phrasendreschen – das heißt, Sätze zu machen, die dem Ohr schmeicheln und vollkommen hohl sind.
Die Worte dröhnten weiter – der arme Sir George bekam einen ganz roten Kopf. Er warf dem anderen Mann am oberen Ende des Tisches einen verzweifelten Blick zu, und jener andere Mann kam ihm zu Hilfe.
Edward Ferrier sagte:
»Schon gut, George, ich werde es ihm sagen.«
Hercule Poirot wandte seinen Blick vom Home secret a ry zum Premierminister. Edward Ferrier interessierte ihn ungemein, und dieses Interesse war durch einen zufälligen Ausspruch eines alten Mannes von zweiundachtzig Jahren geweckt worden. Professor Fergus MacLeod hatte, nachdem er ein chemisches Problem bei der Entlarvung eines Mörders gelöst hatte, einen Augenblick die Politik gestreift. Nachdem sich der berühmte und beliebte John Hammett – jetzt Lord Cornworthy – zurückgezogen hatte, war dessen Schwiegersohn, Edward Ferrier, beauftragt worden, ein Kabinett zu bilden. Für einen Politiker war er jung – unter fünfzig. Professor MacLeod hatte gesagt: »Ferrier war einmal einer meiner Studenten, er ist ein vernünftiger Mensch.«
Das war alles, aber für Hercule Poirot bedeutete es viel. Wenn MacLeod jemand vernünftig nannte, so war das ein Zeugnis, neben welchem kein Volks- oder Presseenthusiasmus zählte. Übrigens deckte es sich mit der öffentlichen Meinung. Edward Ferrier galt als vernünftig – nicht als geistreich, nicht als groß, nicht als ein besonderer Redner, noch als ein Mann von profunder Bildung. Er war ein vernünftiger Mann – in der Tradition erzogen – ein Mann, der John Hammetts Tochter geheiratet hatte, der John Hammetts rechte Hand gewesen war und dem man vertrauen konnte, die Regierung in der Tradition John Hammetts weiterzuführen.
Denn John Hammett war dem englischen Volk und der englischen Presse ans Herz gewachsen. Er hatte alle Eigenschaften, die die Engländer lieben. Die Leute sagten von ihm: »John Hammett ist ein ehrlicher Mensch.« Man erzählte sich Anekdoten von seinem schlichten Privatleben, seiner Liebe zum Gärtnern. Als Gegenstück zu Baldwins Pfeife und Chamberlains Regenschirm figurierte sein Regenmantel. Er trug ihn ständig – ein vom Wetter arg mitgenommenes Kleidungsstück – ein Symbol für das englische Klima, den klugen Vorbedacht der englischen Rasse, ihrer Anhänglichkeit an alte Besitztümer. Außerdem war John Hammett in seiner urwüchsigen britischen Art ein Redner. Seine Reden, ruhig und ernst vorgetragen, enthielten jene einfachen Klischees, die so tief im englischen Herzen verwurzelt sind. Ausländer kritisierten sie zuweilen als heuchlerisch und allzu nobel, aber John Hammett gefiel sich darin, in einer anständigen, jungenhaft treuherzigen Art nobel zu scheinen.
Überdies war er eine imponierende Erscheinung. Groß, aufrecht, blond, mit strahlenden blauen Augen. Seine Mutter war Dänin, und er selbst war viele Jahre lang Erster Lord der Admiralität gewesen, daher sein Spitzname »Viking«. Als er endlich durch Krankheit gezwungen war, die Zügel der Regierung aus der Hand zu geben, machte sich im Land ein tiefes Unbehagen fühlbar. Wer würde sein Nachfolger werden? Der geistvolle Lord Charles Delafield? (Zu geistvoll – das brauchte England nicht.) Evan Whittler? (Klug, aber vielleicht etwas skrupellos.) John Potter? (Ein Mann mit Diktatorallüren – und wir brauchen keinen Diktator in diesem Land, danke schön.)
Daher atmete das Land auf, als Edward Ferrier das Amt übernahm. Ferrier war der richtige. Der alte Mann hatte ihn geschult, Ferrier hatte seine Tochter geheiratet. Nach der klassischen britischen Wendung würde Ferrier »carry on«, die Sache im gleichen Sinn weiterführen.
Hercule Poirot beobachtete den ruhigen Mann mit der tiefen, angenehmen Stimme und der dunklen Gesichtsfarbe. Mager und brünett, und abgespannt aussehend.
Edward Ferrier sagte: »Monsieur Poirot, vielleicht kennen Sie eine Wochenschrift namens X-Ray-News?«
»Ich habe zuweilen einen Blick hineingeworfen«, gestand Poirot leicht errötend.
Der Premierminister forschte weiter:
»Dann wissen Sie auch mehr oder weniger,
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