Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
George stöhnte.
»Die Ställe des Augias!«
Poirot horchte auf.
Ferrier fuhr fort:
»Ich fürchte, es wird sich als eine zu herkulische Aufgabe für uns erweisen. Wenn die Tatsachen einmal bekannt werden, wird eine Welle der Reaktion über das ganze Land gehen. Die Regierung wird fallen. Es wird Neuwahlen geben, und höchstwahrscheinlich wird Everard mit seiner Partei wieder ans Ruder kommen. Sie kennen Everards Politik.«
»Ein Hitzkopf – ein Revolutionär«, platzte Sir George heraus.
»Everard hat große Fähigkeiten, aber er ist rücksichtslos – ein Kriegshetzer und vollkommen taktlos«, sagte Ferrier ernst. »Seine Parteigenossen sind schwach und unfähig – es wäre praktisch eine Diktatur.«
Hercule Poirot nickte.
»Wenn man nur das Ganze vertuschen könnte…«, sagte Sir George.
Der Premierminister schüttelt skeptisch den Kopf.
»Sie glauben nicht, dass es vertuscht werden kann?«, forschte Poirot.
Ferrier sagte:
»Ich habe mich als letzte Zuflucht an Sie gewendet. Meiner Meinung nach ist die Angelegenheit zu groß, und es wissen zu viele Leute davon, als dass sie erfolgreich verheimlicht werden könnte. Die einzigen zwei Methoden, die uns – ehrlich gesagt – offen stehen, sind Gewalt und Bestechung, und beide sind nicht viel versprechend. Sir George hat unsere Schwierigkeiten mit dem Ausmisten der Ställe des Augias verglichen. Dazu bedarf es der Gewalt einer plötzlichen Flussüberschwemmung, der Entfesselung großer Naturkräfte – kurz, nicht weniger als eines Wunders, Monsieur Poirot.«
»Es bedarf in der Tat eines Herkules«, murmelte Poirot und nickte zufrieden mit dem Kopf.
Er fügte hinzu: »Vergessen Sie nicht, dass mein Vorname Hercule ist…«
Edward Ferrier sagte: »Können Sie Wunder vollbringen, Monsieur Poirot?«
»In dieser Hoffnung haben Sie mich doch kommen lassen, nicht wahr? Weil Sie dachten, dass ich es vielleicht könnte.«
»Das stimmt – mir wurde klar, wenn es eine Rettung gäbe, so nur durch eine phantastische, ganz ausgefallene Idee.«
Nach einer kleinen Pause fuhr er fort:
»Aber vielleicht betrachtet Monsieur Poirot die Sache vom moralischen Standpunkt? John Hammett ist ein Schwindler, und die Legende über John Hammett muss auffliegen. Kann man ein festes Haus auf morschem Grund bauen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich es versuchen will.«
Er lächelte plötzlich unendlich bitter.
»Der Politiker klammert sich an seine Stellung – wie üblich aus den edelsten Motiven.«
»Meine Erfahrungen bei der Polizei haben mir vielleicht keine allzu hohe Meinung von den Politikern beigebracht.« Poirot erhob sich. »Wäre John Hammett noch in Amt und Würden, so würde ich keinen Finger rühren – nein, nicht den kleinsten Finger. Aber ich weiß etwas von Ihnen. Mir wurde von einem wirklich großen Mann, einem der größten Gelehrten und Köpfe unserer Zeit, gesagt, Sie seien ein – ve r nünftiger Mann. Ich werde mein Möglichstes tun.«
Er verbeugte sich und verließ das Zimmer.
»Eine solche unglaubliche Frechheit ist mir noch nie – «, platzte Sir George heraus.
Aber Edward Ferrier sagte, noch lächelnd:
»Es war ein Kompliment.«
Auf seinem Weg hinunter wurde er von einer großen, blonden Dame aufgehalten.
»Bitte, Monsieur Poirot, kommen Sie einen Augenblick zu mir herein«, bat sie.
Er verbeugte sich und folgte ihr. Sie schloss die Tür, bat ihn, Platz zu nehmen, und bot ihm eine Zigarette an. Dann setzte sie sich ihm gegenüber und begann ruhig:
»Sie waren eben bei meinem Mann – und er hat mit Ihnen über meinen Vater gesprochen.«
Poirot blickte sie aufmerksam an. Sie war eine große, noch schöne Frau mit klugen, ausdrucksvollen Zügen. Mrs Ferrier war eine beliebte Erscheinung. Als Gattin des Premierministers stand sie im Mittelpunkt des Interesses, und als Tochter ihres Vaters war ihre Popularität sogar noch größer. Dagmar Ferrier war für das Volk das Ideal englischer Weiblichkeit.
Sie war eine zärtliche Gattin und Mutter, sie teilte die Vorliebe ihres Gatten für das Landleben. Sie interessierte sich nur für jene Seiten des öffentlichen Lebens, die allgemein als das richtige Wirkungsfeld der Frau galten. Sie zog sich gut, aber nie auffällig an. Sie widmete viel Zeit und Energie großen Wohltätigkeitsaktionen, und sie hatte ein besonderes System für die Unterstützung der Frauen Arbeitsloser ins Leben gerufen. Die ganze Nation blickte zu ihr auf; sie war ein wertvoller Aktivposten für die
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