Die Erzaehlungen 1900-1906
Morgens fanden wir an der Türe des Waschsaals einen Bogen Papier
angeheftet, auf welchem mit verstellter Handschrift mehrere
Xenien
ge-
schrieben standen. Eines davon lautete:
Hermann und Erwin, ihr passet zusammen
wie Essig und Honig;
Wäre der Essig nur scharf!
wäre der Honig nur süß!
Fünfzig Köpfe waren vor dem Papier zusammengedrängt; man las, man schalt,
man spottete und lachte, die Getroffenen waren wohlbekannte Unbekannte.
Am nächsten Morgen war die Türe von oben bis unten mit Xenien beklebt,
kaum einer war verschont oder hatte geschwiegen. Ich glaube, mein Essig war
damals scharf.
Der Scherz dauerte einige Tage und hinterließ in mir eine erregte Bitterkeit, die ich vorher nie gekannt hatte. Ich war von mehreren empfindlich verletzt, von den Feinsten am tiefsten. Da der Xenienkrieg nicht lange dauern konnte,
setzte sich der stumme Ärger in mir fest und verbitterte mir Arbeit, Tisch
und Bett. Erwin hatte vor Ärger und Zorn geweint, war aber bald beruhigt,
denn er genoß die Achtung der meisten. Mir leistete er mit rührender Treue
Gesellschaft. Er ertrug meine Verschlossenheit so still wie die Ausbrüche meiner Wut; er gab sich sogar Mühe, die Gegner und Lacher zu besänftigen und
von mir fernzuhalten.
Für mich begann eine unerquickliche Zeit. Meine Verstimmung schlug völlig
in Weltschmerz und Angstgefühl um und verdarb mir vollends allen Fleiß und
Erfolg. Ich wurde Nächte lang von Fiebergedanken gequält oder lag wach mit
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schmerzender Stirne. Erwin tröstete, gab kleine Arzneien, er schlug sogar vor, für mich beim Ephorus um Erleichterung oder Urlaub zu bitten. Manchmal,
wenn ich mit ihm in den Eisten der alten Eiche saß, überwältigte mich mei-
ne Liebe und Herzensnot. Dann schwieg er freundlich und legte seinen Kopf
an meinen und umfaßte mich fest. An jenem verborgenen Ort, nach einem
erlösenden Geständnis, gab er mir die feine Hand und schwur mir feierlich
Freundschaft für jede Zukunft.
An einem sonnigen Nachmittag stand ich mit ihm in der herrlichen Brun-
nenkapelle. Das Gärtchen lag mit hellen Knospen im ersten Frühling zwischen
den kalten Kreuzgängen. Erwin war fröhlich gestimmt und erschwerte mir ei-
ne vertraute Mitteilung. Sie unterblieb. Ich küßte dem Erstaunten die Hand
und ging weg, aus Kloster und Dorf, in den weiten Wald, um nicht wieder
zu kommen. Voll von Frühling und Sehnsucht lief ich, einverträumtes und
verängstetes Kind, in die unbekannte Welt, und seitdem habe ich das verlo-
rene Tal mit dem dunklen Kloster nicht wieder gesehen, außer in Träumen
warmer Frühlingsnächte.
II
Meine Gedanken fliehen gerne zu einem Frühling zurück, der auf meine kurze
Klosterzeit folgte. Ich erblicke dort das verwirrende Licht junger Lauben und höre den Wind vom Park her über die großen Büsche des Jasmin und der Sy-ringen laufen. Dorthin gehört das Bild eines blassen Mädchens, das in meinem Traumschloß hängt, nebst einem verschwiegenen Kranze früher Lieder.
An manchen Tagen, wenn ich ruhend im Garten sitze oder wenn die milden
Gestalten der Vita Nuova wie Flüchtlinge an meinem Geist vorübergehen,
hängt der Kranz jenes Frühlings schwer in drängender Fülle über mir, mit
überquellenden Blütenbündeln. Mir aber blieb nur ein Hauch seines Duftes,
ein bleiches Band und ein karger Wanderstrauß aus seiner Fülle.
Ein Jahr später, als mein geschmücktes Boot sich vom ersten Schiffbruch
wund erhob, kam der erste Brief des Freundes zu mir. Der Zwischenzeit und
unsres Schweigens geschah kaum Erwähnung.
Ungeduldiger!
stand da,
du hast mir hart zu tragen gegeben, und ich
bin nicht nur ein Jahr älter geworden. Morgen verlasse ich das Kloster, das
mir mehr als dir zum Ekel wurde. Deine Flügel hab ich nicht, aber ich habe
die Erlaubnis der Mutter und den Befehl des Arztes. Heute nehmen viele Ent-
sagungen für mich ein Ende – nun will ich auch dich nicht länger entbehren.
Ein Jahr lang wechselten wir herzliche Briefe. Dann sah ich ihn wieder.
Das war ein Sommertag im Schwarzwald. Der Abend hing rot, mit dünnen
Nebeln, an den dunklen Bergen. Ich lag im Fenster und sog die starke Luft
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der Höhe und der Tannenwälder. Das kleine Städtlein lag lustig unter mir mit belebten Gassen. Die Badmusik spielte in der Nähe.
Als ich mich ins dunkelnde Zimmer zurückwandte, stand in der offenen
Türe ruhig ein schlanker Mensch, der mich schweigend herantreten und sich
betrachten ließ. Er war größer als
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