Die Erzaehlungen 1900-1906
Häuschen, das Brachvogel nach einigem
Fragen fand und betrat.
Nun wurde er von dem überraschten Freunde mit Jauchzen empfangen, auch
der stille alte Vater drückte ihm die Hand und bewegte die hart gefalteten
Lippen zu einem altmodischen Willkommspruch. Darauf brachte Hermann
den Gast in die Stube, welche sie teilen sollten. Der Hauslehrer packte unter lustigem Geplauder seinen Marschranzen aus, der neben einiger Leibwäsche
und einem Gehrock auch die zwei Bände Novalis enthielt.
Ah, der Novalis!
rief Rosius erfreut und nahm einen Band in die Hände,
in welchen Brachvogel schon in Tübingen die Dedikation geschrieben hatte.
Sie fiel ihm sogleich ins Auge, und er umarmte den Spender dankbar.
Weder dieser noch der Beschenkte ist heute mehr am Leben, aber die Wid-
mung von Brachvogels Hand steht noch in dem Bande auf dem inneren Ein-
banddeckel zu lesen:
Theophil B. seinem Freunde Hermann Rosius, im Sommer 1838.
Und darunter:
Der echte Dichter ist allwissend; er ist eine wirkliche Welt im Kleinen.
(Novalis)
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Wenn ich statt der Geschichte meines Novalis diejenige des Theophil Brach-
vogel und seines Freundes schriebe, so müßte ich nun dessen Ferienaufenthalt, den ersten Besuch und Kaffee beim Herrn Amtmann, Brachvogels erste Begegnung mit jener schönen Helene Elster und viele andere schildern und erzählen, worauf ich nur ungern verzichte. Doch muß ich mir die eingehende Darstellung dieser und anderer Ereignisse versagen. Ich würde sonst Bände brauchen, bis
ich meine Geschichte aktenmäßig zu ihrem vorläufigen Ende, das heißt bis auf den heutigen Tag, geführt hätte.
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So betrachte ich denn meinen Novalis und suche in ihm weitere Spuren des
Lebens von damals.
Die am Ende des vorigen Kapitels zitierte Widmung Brachvogels, die im
ersten Bande steht, zeigt Spuren davon, daß ein Versuch gemacht wurde, sie
auszuradieren. Die gute Tinte hatte sich jedoch zu tief in das weiche Papier gefressen und widerstand dem Tilgungsversuch. Widmung und Spruch blieb
stehen.
Was bedeutet für den Käufer, Besitzer und Leser eines alten Buches der vom
Radiermesser zerschabte erste Buchstabe einer vor sechzig Jahren geschriebe-
nen Widmung? Nichts. Eine minimale Verunzierung, der man außerdem leicht
durch Überkleben nachhelfen kann.
Ich habe aber jene Stelle nicht überkleben lassen. Sie bedeutet für mich und für unsere Erzählung ein ganzes Kapitel, ein dunkles, schmerzliches, dessen
Bericht mir schwerfällt, da ich für die Hände und Schicksale, mit denen mein Buch damals Berührung fand, seit langem eine stille Liebe hege.
Drei Wochen nach jenem vergnügten Abend seiner Ankunft war der Haus-
lehrer Brachvogel nicht mehr derselbe jugendlich sorglose, naiv heitere Mensch wie zuvor. Er hatte einige von den Dingen erfahren, deren schnelles Erleben
älter macht als eine ganze Reihe von stillen Jahren. Er warum ein Glück, ei-
ne Schuld und ein Leid reicher und um einen Freund und eine Jugend ärmer
geworden. Der Novalis war wieder in seinem Besitze, und er selbst hat jenen
Radierversuch an der noch frischen Widmung gemacht.
Er war mit Helene Elster verlobt, und der arme Hermann Rosius hatte sei-
nen Freund und seine Liebste auf denselben Tag verloren. Oder doch nicht
am selben Tage; denn nach dem Bruch der Freundschaft war um das schöne
Mädchen noch ein kurzes verstecktes und verzweifeltes Ringen gewesen. Dann
hatte der hübsche, lebensfrohe Brachvogel den Sieg gewonnen, und die erbit-
terte Rivalität der entzweiten Herzensfreunde hatte sich, namentlich auf des armen Theologen Seite, in ein herbes, trauriges Verzichten und Verlorengehen verwandelt.
Hatte Theophil eine Untreue begangen? Er selbst litt an dieser Frage, und
mußte Ja und Nein zugleich antworten. Ja – denn er hätte am ersten Tage,
nachdem er mit dem Mädchen gesprochen hatte, fliehen und dem Freunde
seine älteren Rechte lassen können. Später konnte von Untreue oder irgend-
welcher bewußten Sünde nicht mehr die Rede sein, da waren Recht und Un-
recht und war auch die Freundschaft im Brande der drängenden Leidenschaft
geschmolzen und vergessen.
Ich sann manchmal darüber nach, wieviel Schuld ihm beizumessen sei; und
nach meiner Meinung ist seine Schuld nicht klein, denn ich weiß nichts so
Heiliges und Unantastbares als eine herzliche Freundschaft unter Jünglingen.
Aber Theophil war jung, und sein ganzes Wesen mag in jenen Jahren nach der
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entscheidenden Frauenliebe gedrängt haben. Und wer
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