Die Erzaehlungen 1900-1906
Musikalisch? Singt sie? Groß? Klein? Helden-
geist? Sanfte Seele?
So bist du immer, Theo!
Ja, ja, aber wie sie ist, will ich wissen. Hast du ein Bild von ihr?
Ein Bild? Wie sollte ich dazu kommen? Nein. Sie hat braunes Haar und
ist ziemlich schlank. Und sie hat ein Herz – ein Gemüt – –
Rosius, ein Künstler bist du nicht. Aber ich fange doch allmählich an, ein
Bild von ihr zu bekommen.
Also ich wollte dir erzählen. Ich sah sie zuerst bei einem Kaffee im Helfer-
haus. Sie ist nämlich erst seit ein paar Monaten aus dem Institut zurück. Du weißt, wie schüchtern ich mit Mädchen allemal bin. Und nun saß sie am Tisch
gerade neben mir! Ich war ganz behext von ihrer Stimme. Sie sprach mit ih-
rem Gegenüber von Musik, und von einer Reise, und von Mädchengeschichten.
Weißt du, eine Stimme – so eine besondere, glockenklar und doch mit einem
Schleier drüber. So hab ich die Stimme meiner Mutter in Erinnerung. Und
dann war sie so schön! Ich konnte sie ja nicht richtig ansehen, aber ihre linke Hand lag immer neben mir auf dem Tisch. Ich wußte gar nicht, daß so eine
bloße Hand auch etwas Schönes sein kann.
Was hast du denn mit ihr gesprochen?
Du hast gut fragen. Ach Gott, ich wünschte die ganze Zeit, sie möchte
mich anreden.
Das wäre doch deine Sache gewesen.
Ich weiß nicht. Sie sprach von einem Fest. Plötzlich drehte sie sich nach
meiner Seite herum und fragte: >Sind Sie auch dabei gewesen?< Ich glaubte, sie meine mich, es galt aber dem Helfer. Ich antwortete: >Nein< – zugleich antwortete der Helfer, und ich sah, daß ich mich geirrt hatte, und schämte
mich.
Und das ist alles gewesen?
Wart nur! Also das war unser erstes Zusammentreffen. Dann war ich beim
Amtmann eingeladen und sah sie dort wieder. Da konnte ich mich etwas freier
bewegen als im Helferhaus, und es gelang mir, ein Gespräch mit ihr anzu-
knüpfen. Es ging freilich nicht gerade flott, denn sie redete viel schneller als ich und kam immer mit etwas Neuem, wenn ich gerade über das vorige Thema
einen rechten Satz präpariert hatte. Sie ist eine vollkommene Dame. Sie lenkte das Gespräch nur so hin und her, daß ich ganz wirr wurde. Später sah ich sie bei einem Konzert, einem Streichquartett, wo der Amtmann mitspielte und
mein Onkel auch. Da plauderte sie vertraulich mit mir, ich war ganz munter
und schlagfertig, es war ein guter Tag. Seither hat sie, glaube ich, meine Neigung bemerkt. Sie wurde ein wenig rot, sooft ich sie auf der Straße grüßte,
auch ging ich oft an ihrem Haus vorbei. Es scheint, daß sie mich nicht ungern sieht – –.
25
Es war noch nicht spät, als der Hauslehrer seinen Novalisband wieder an
sich nahm und seine Stube im unteren Stockwerk wieder aufsuchte. Er las dort die Hymnen zu Ende, und las sie noch einmal, bis spät in die Nacht.
Von da an begleitete wochenlang das Saitenspiel des zarten, geheimnisvollen
Dichters sein Leben Tag für Tag. Der Frühling kam, die Kastanien der Allee
wurden grün, im Schönbuch klang Finkenschlag und Amselruf, und die sich
füllenden Wipfel begannen tiefer zu rauschen. Dalag Brachvogel an manchem
hellen freien Nachmittag im Walde. Buchenschatten und Sonnenflecken fielen
in die aufgeschlagenen Seiten des Lieblingsbuches, eingelegte Blumen und als Lesezeichen benutzte Baumblätter drückten ihre leichten Spuren ein. Am Rande der
Fragmente
entstanden nachdenkliche Notizen, mit leichtem Bleistift
eingetragen, und die Daten mehrerer besonders schöner und glücklicher Wald-
lesetage wurden auf das leere letzte Blatt geschrieben, manche auch in den
Text selber. Jetzt noch steht unter anderen auf Seite 79 neben dem Märchen
von Rosenblüte und Hyazinth die Bemerkung zu lesen:
Zum erstenmal ge-
lesen den zwölften Mai, am Waldrand über Bebenhausen.
Auf derselben
Seite haben sich die feinen Rippen eines eingelegten jungen Buchenblattes in bräunlichen Linien abgedrückt erhalten. Das Blatt selbst ist nicht mehr dabei.
Auch Hermann Rosius las häufig allein oder mit dem Freunde zusammen
in den beiden Bänden und gewann den feinen Dichter herzlich lieb. Dennoch
konnte sein streng-frommes Gemüt sich den kühneren unter den
Fragmen-
ten
gegenüber der Kritik und des Tadels nicht immer enthalten. Bei zwei
Aphorismen religiösen Inhaltes sind von seiner Hand Bibelstellen an den Rand geschrieben. Ich besann mich oft, wer von den späteren Lesern wohl genug
Liebe und pietätvolle Neugierde gehabt haben mag, um jene Stellen
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