Die Erzaehlungen 1900-1906
will rechnen, wie schwer
trotz seines Glückes sich die verratene Freundschaft an ihm gerächt hat?
Ich denke mir, daß sein des Leidens und Unrechthabens nicht gewohntes
Herz gezittert haben muß, als Rosius ihm das geschenkte Buch mit anderen
kleinen Freundschaftsreliquien zurücksandte, dies Buch, über dem sie so viele reiche schwärmerische Stunden miteinander zugebracht hatten. Und ich denke
mir, daß sein Herz zitterte, als er wieder allein in Tübingen in seiner Wohnung saß und vergeblich die Widmung vom Deckel des Buches zu tilgen versuchte
– so vergeblich, wie das vergiftete Andenken an den ehemaligen Freundes-
bund aus seinem Herzen. Ich denke mir auch, daß er seiner oft zu Besuch in
Tübingen weilenden Braut manchmal eines der Gedichte oder Märchen von
Novalis vorlas, und wie mag da ihm und ihr zumute gewesen sein, als sie zum
erstenmal nach dem Buche griff und die Widmung und jenen Namen und den
Versuch, ihn auszulöschen, sah?
Rosius fand zwei Jahre später eine andere Liebe, und seine Hochzeit fand
wenige Monate nach der Brachvogelschen im Jahre 1842 statt. Beide Freunde
nahm das Leben des Amtes und der Familie in Anspruch, die Erinnerungen
wurden milder und bleicher, aber sie sahen sich nicht wieder, und einer hörte vom anderen jeweils nur zufällig aus dritter Hand.
Über dem geschäftig zufriedenen häuslichen Leben mag auch der stille Dich-
ter fast vergessen worden sein, er stand viele Jahre lang wenig benützt in der Hausbibliothek Brachvogels. In diesen Jahrzehnten begannen die älteren Verehrer jener frühromantischen Poesie allmählich auszusterben, ohne daß neue
ihnen gefolgt wären. Unter der damals heraufkommenden Jugend kannten we-
nige von Novalis mehr als den Namen, auch der heranwachsende Sohn Brach-
vogels nicht, der die beiden schlichten Bände, obwohl er sonst ein Leser war, unberührt im väterlichen Bücherschrank stehen ließ. Es schien, als wäre es
mit dem Ruhm des seit fünfzig Jahren begrabenen Dichters vorüber. Für ihn
schien die trostlose Zeit des Antiquierens gekommen, jenes rasche traurige Sinken vom Lächerlichwerden zum Langweiligwerden und von da vollends zum
Vergessenwerden.
So stand unser Buch zehn Jahre und zwanzig Jahre. Seine Blätter bekamen
einen leisen Cremebezug, jenen Edelrost alternder Bücher, der dem Vergil-
ben vorangeht. Das vielgeschmähte Löschpapier hielt sich aber vortrefflich.
So wenig edel es war, sieht es doch heute noch frischer und weißer aus als die Mehrzahl der jammervollen Drucke aus den siebziger und achtziger Jahren,
die einem unter der Hand braun werden.
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Annähernd zwanzig Jahre standen die beiden einfachen Sedezbände still und
von niemandem begehrt im Bücherkasten. Was sind zwanzig Jahre in der Ge-
schichte eines guten Buches! Vielleicht ruhten sie doch nicht vollkommen, vielleicht nahm sie der vielbeschäftigte Lehrer und Hausvater doch noch zuweilen vom Brett und überglitt mit ernsten Augen die schon alternden Blätter, wenn
Erinnerung und Jugendheimweh des Nachts am Studiertisch ihn überfielen.
Dann wunderte er sich vielleicht betrübt darüber, wie rasch der zarte Dich-
ter aus dem Andenken der Welt verschwunden und wie selten sein Name noch
in jemandes Munde war; er ahnte nicht, daß Jahrzehnte später die ernste
Schönheit dieser Dichtung neue Freunde und laute Verehrer und Verkünder
finden würde. Ich denke, in einer solchen Stunde des Rückwärtssinnens schrieb er auf eine leere Halbseite des zweiten Bandes den Vers, den ich dort oft mit Bewegung las:
Wie weht aus deinen süßen Reimen
Ein Duft der Jugendzeit mich an,
Die mir in bunten Dichterträumen
So leicht und unvermerkt zerrann!
Du bist mir wie aus Maientagen
Im Herbst ein Gruß von Blumen zart,
Du willst mir ernst und leise sagen,
Wie fern mir meine Jugend ward.
Manchmal griff vielleicht auch die schöne Hausfrau nach dem Novalis. Ich weiß es nicht, doch glaube ich es gerne, denn auf ihrem Bilde, das ich in meinen
Jünglingszeiten manchmal sah, hat sie jenen geistigen, zarten Träumerzug
im vornehmen Gesicht, aus dem wir gern eine rege, dem Schönen zugeneigte
Seele erraten. Es macht mir Vergnügen, zu denken, sie habe die hellbraunen
Bändchen zuweilen in ihren weißen Fingern gehalten.
Jedenfalls blieb das Buch im Brachvogelschen Hause und war dort noch vor-
handen, als der Sohn des Hauses Anno 1862 von Tübingen aus darum schrieb.
Er war wie sein Vater Philolog und mochte gelegentlich bei
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