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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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    schlagen.
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    Unvermutet schnell wie immer war der Sommer herangekommen. Die Stu-
    denten reisten nach allen Seiten fort in die Heimat oder auf Vetternreisen.
    Der fleißige Hauslehrer, obwohl auch er einige Wochen Urlaub erhalten hatte, war in Tübingen geblieben, um zu arbeiten. Der heiße August brannte auf
    den Dächern und glühte in den engen, gepflasterten Gassen der Stadt. Der
    Kandidat Rettig hatte sein Examen gemacht und war noch am letzten Tage
    des Semesters zu Brachvogel gekommen, um den Rest seines Novalistalers zu
    holen.
    Brachvogel bewohnte nun etwas vereinsamt eine Ferienbude in der Münz-
    gasse und saß arbeitsam bald hinter dem Studiertisch, bald in der Bibliothek.
    Da kam ein Brief von Hermann Rosius und brachte ein frisches Stück Leben
    in sein stilles Dasein. Der Brief lautete:
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    Mein Herzensfreund!
    Wie lebst Du in Tübingen? Ich denke es mir dort jetzt sehr still. Fördert
    Deine Arbeit? Was mich betrifft, so hab ich bis jetzt kaum ein Buch berührt.
    Jetzt aber spüre ich großes Verlangen, einmal zusammenhängend und mit
    Muße Novalis zu lesen. Du mußt ihn mir, oder mindestens einen Band davon,
    mitbringen.
    Ja, mitbringen! Denn ich erwarte, daß Du mich nächster Tage besuchst, ich
    bitte Dich herzlich darum. Die Sache mit dem Mädchen scheint Fortschritte zu machen, und ich möchte Dich hier haben, zunächst damit Du Dich mitfreust,
    aber auch damit Du mir mit Deiner geschickteren Art und Deiner größeren
    gesellschaftlichen Erfahrung beistehst. Ich bin in alledem so unbeholfen. Mein lieber Vater hat Raum für einen Gast, wenn wir uns ein bißchen behelfen.
    Bitte komm gewiß, und so bald als möglich!
    Der Hauslehrer las die Einladung mit Freude und beschloß, ihr ohne Verzug
    zu folgen. Lachend und Wanderlieder singend, packte er noch am selben Tage
    sein Ränzel. Den erbetenen Novalis beschloß er nach einigem Zaudern dem
    Freunde nicht nur mitzubringen, sondern gleich zu dedizieren.
    Am folgenden Morgen machte er sich zu Fuß auf den Weg nach dem Hei-
    matstädtchen des Kameraden, das ein paar Meilen weiter neckarabwärts lag.
    Die weiße Landstraße glänzte hellauf in der Morgensonne, die schönen Necka-
    rufer lagen grün und fruchtbar im Leuchten des Hochsommertages. Von heiß zu
    ersteigenden Höhen aus sah der Wanderer den blanken, gewundenen Lauf des
    Flusses durch gilbende Fruchtfelder und schattige Obstgärten sich strecken,
    oft auch von steilen Weinbergen gesäumt. Kirchturmspitzen funkelten blen-
    dend von entfernten Dörfern herüber, in den Feldern und Rebhügeln war rege
    Arbeit, ruhig und waldig begrenzten die höheren Berge der Alb die Aussicht.
    In der frischen, empfänglichen Seele des jungen Reisenden spiegelte sich
    diese ganze frohe und farbige Welt reich und glücklich wider. Erinnerung,
    Ahnung und Hoffnung schmolz ihm mit der Schönheit der sichtbaren Welt
    unvermerkt und wohllaut zusammen, und werdende Lieder bewegten keimend
    den Sinn des Jungen, fröhlichen Menschen. Er war ein geborener Wanderer,
    rüstig, gelenkig, zäh und bereit, alles Begegnende von der freundlichen Seite zu fassen. Auch war sein Auge offen für alle Schönheiten der Landschaft und
    empfänglich für die feinen Reize der Berglinien, der Beleuchtung, Laubfarben und der blauen Töne der Ferne.
    Während des Dahinschreitens erinnerte er sich mit Vergnügen der Reise-
    bilder im Heinrich von Ofterdingen, den er schon zweimal gelesen hatte. Die
    geistvoll zarten Verse der
    Zueignung
    mit ihrem rätselhaft süßen Liebreiz
    und ihrem innig musikalischen Wohlklang fielen ihm ein. Vielleicht wußte er
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    nicht, wie ähnlich er selbst dem jungen Ofterdingen jener Dichtung war. Was
    ihm zum Manne noch fehlte, eben das gab seinem Wesen die harmlos lie-
    benswerte Frische. Der Duft der frühen Jugend lag auf ihm, dem noch kein
    großer Schmerz die Unbefangenheit genommen und dafür die Weihe der Reife
    gegeben hatte.
    Am späten Nachmittag erreichte er das Städtchen, in welchem Rosius auf
    ihn wartete. Über das Gewirre der alten und neuen Dächer ragte der be-
    hagliche Kirchturm, mit einer humoristisch wirkenden Zwiebel gekrönt. Züge
    von Gänsen und Enten bevölkerten Gassen und Hofwirikel sowie den sanft
    strömenden Neckar, den eine ehrwürdig graue, steinerne Brücke überspannte.
    Der alte Rosius war ein kleiner Kaufmann oder eigentlich ein Krämer ge-
    wesen, hatte sich jedoch seit einigen Jahren zur Ruhe gesetzt und wohnte in
    einem zur Hälfte vermieteten neuen

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