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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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gutmütig in das verängstete, faltige Vogelgesicht hinein und brüstet sich einfach: »Ja, so ist es dort.«
    Der alte Beamte ertrinkt wieder in seinen Folianten, aber beunruhigt erkundigt er sich nach einer Weile doch: »Wo?«
    »Wo,« meint der Offizial, »na, im Leben «
    Herr Kniemann denkt: Du wirst mir sagen; denn er hat Erfahrung. Er hat die Blattern gehabt und den Scharlach, und konfirmiert worden ist er auch; also. Er lächelt überlegen, und das ist wie ein kleines Flämmchen am Gasarm, irgendwo mitten in seinem Kopf. Und nun da etwas durchschimmern will, merkt man erst, wie verstaubt diese matte Glaskugel ist.
    Der junge Herr drüben läßt sich nicht irre machen. Heute gibt er sich heraus: Gesammelte Werke. Er fährt also fort: »Denken Sie an einen Sommertag. Scheint der nicht unermeßlich? Und das ist noch gar nichts, denn der Sommer hat viele Tage. Und keiner ist ganz wie der andere, jeder ist ein Wunder für sich. Draußen sind überhaupt lauter Wunder, und alle sind für uns. Wenn wir nicht hinschauen, wer kann dafür? Wir sitzen hier und tun Gescheiteres. Wir schreiben Zahlen. ›Kohlentransport im Monat Dezember‹ schreiben wir, und draußen ist das Leben. ›Kastenwagen Nr. 7815‹ schreiben wir, und draußen ist das Glück.
    Ich werde Landwirt, Bauer meinetwegen. Man muß nämlich etwas tun, wovon der liebe Gott weiß. Glauben Sie, der kann hereinsehen in diesen dumpfen Hinterhof? Damit er sich die Laune verdirbt für zehn Feiertage!
    Und dann dürfen Sie nicht vergessen: Alles ist Bewegung draußen, Auf und Ab, Hin und Her wie ein Tanz. Keinem schlafen die Füße ein, keinem wird die Brust knapp über dem Herzen. Man sollte von uns nicht sagen: sitzende Lebensweise; denn das ist ein Selbstmord und heißt höchstens: sitzende Todesart. Und ich habe noch lange keine Lust zu sterben. Ich habe die Absicht, vorher noch ein paar Zigaretten zu rauchen in guter Gesellschaft. Denn dort ist (nicht wie hier) Alles erlaubt, auch das Rauchen.«
    Der Kopf des Revisors ist während dieser Rede langsam aufgetaucht und liegt jetzt mit vorgeschobenem Unterkiefer auf einer Mappe, »Akten Litera B«, wie ein geschmackloser Briefbeschwerer. Er nickt aufmerksam: »Im Leben?« »Im Leben«, bestätigt der junge Mensch ernst und hat heiße Wangen.
    »Es ist ja wahr: man tappt so eine Weile herum an der Tür, man findet nicht gleich ins Leben hinein. Und dann ist es ja auch die Gefahr, dieses Leben. Es ist eben Gipfel und Abgrund, Insel und Welle Alles. Alles! Fühlen Sie, was das heißt? Das will sagen: Christabend, Bescherung Oh man hat ja gar nicht genug Hände, um alle Gaben zu halten, nicht genug Augen, sie zu bewundern überhaupt man ist arm vor Reichtum.«
    »Im Leben.« Diesmal ohne Fragezeichen. Und die arme Stimme des Alten ahmt unbewußt dem Jubel des anderen nach. Der Revisor staunt selbst, wie das klingt, und versucht noch einmal vorsichtig, wie einer, der eine Sprache lernt: »Im Leben.«
    Und der drüben sagt fast zugleich: »Im Leben.« Durch den Zweiklang wird das Wort stark wie ein Eid oder wie ein Gebet.
    Der junge Mensch fühlt das Feierliche, ist auf einmal wie mitten im Wald und ganz still. Er denkt an seine Mutter und schaut sie so, wie sie am Sonntag ist: in der lila Haube, ein wenig verweint von der Predigt, aber doch lächelnd… Jetzt hat er, trotz seines blonden Schnurrbarts, ein Kindergesicht und sieht so treuherzig aus, daß der Revisor weiß: Nein, der lügt nicht.
    Er wartet noch auf irgend etwas. Aber als der Offizial schweigt, setzt er sich behutsam, schließt das Buch und schaut lange auf das große schmutzigweiße Löschblatt, welches als Unterlage dient.
    Drei große alte Kleckse halten seine Blicke fest. Endlich reißt er sich los und wendet den Kopf aus irgend einem Grunde dem Fenster zu, vor dem nichts ist, als eine graue Wand und hoch oben ein Streifen Sonne. Herr Kniemann überlegt: »So, so, das ist also gar nicht das Leben.«
    Und da steigen an der grauen Lichthofmauer gegenüber drei orangegelbe Monde auf.
    Das sind seltsame Gestirne, die als schwarze Kleckse auf der verstaubten Mappe untergehen und orangerot immer wieder dort heraufsteigen.
    Der Revisor ängstigt sich plötzlich: »Drei rote Monde, was ist das für eine Welt?« Eine traurige Welt, Herr Revisor. Und er steht nach einer Weile auf und ruft den Kanzleidiener so laut, daß der Offizial erschrickt. Er nimmt seine ganze Stimme zusammen:
    »Knizek!«
    Das muß etwas sehr Dringendes sein.
    »Knizek!«
     
    »Sie

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